Verfallsdatum und Jugendlichkeit

guylang —  20. November 2012 — Kommentiere

Bei einem Besuch in Deutschland offerierte mir meine Gastgeberin einen Fruchtsaft aus einer Glasflasche mit Drehverschluss. Das war im letzten Sommer, am Samstag, den 5. August. In einer Gesprächspause fiel mein Blick auf das Verfallsdatum des Getränks: 5.8.2006, 17.32 Uhr. Ich sah auf die Uhr und erschrak: 18.04! Mir wurde siedend heiss und trockeneismässig kalt, Vergiftungsvisionen überfielen mich. Zwar hatte der Saft ganz normal geschmeckt, aber war da nicht ein seltsam schaler Geschmack gewesen? Ich kramte in meinem Gehirn nach Fakten aus dem Biologieunterricht – er liegt immerhin schon etwa 35 Jahre zurück – darüber, wie schnell sich Bakterien, Kokken und anderes todbringendes Getier vermehrt.
Indische Gerwuerze
Heimlich sah ich in einen Spiegel, konnte jedoch keine Veränderungen feststellen. Weder war ich grün im Gesicht noch traten meine Augen glubschend aus den Höhlen. Nach einer eher unruhigen Nacht wachte ich erleichtert auf – ich hatte den abgelaufenen Saft überlebt.

Besser als produzierte Dinge haben es die Menschen. Sie verfallen nicht, sie zeigen nur Abnützungserscheinungen. In Gesicht, Körper und Geist. Der Verfall kommt eher fliessend. Während bei Esswaren etwas datummässig Verfallenes endgültig schlecht ist und weggeschmissen werden muss, können bei den Übergängen im menschlichen Bereich gewisse Abhilfen geschaffen oder zumindest Korrekturen angebracht werden.

Man denke nur an ästhetische Medizin, die florierende Pharmaindustrie oder all die Anti-Ageing-Angebote. Es ist heutzutage eine Tatsache, dass «Ältere» immer «jünger» werden – die bekannten demografischen Probleme will ich hier mal ausklammern. Gesucht wird nach jungen Mitarbeitenden oder solchen, die zumindest so wirken. Alt aussehen impliziert Unflexibilität, Vergangenheit, eben das Verfallsdatum überschritten habend. Und so wird sehr viel unternommen, um den strahlenden Anschien zu wahren. Am liebsten hat man Zwanzigjährige, die allerdings möglichst eine Berufserfahrung von Vierzigjährigen haben sollten. Juvenilität versus Senilität.

Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass es einen neuen Beruf geben könnte: «Gesichtsentfalter für Bewerbungsgespräche.» Geeignet sind beispielsweise Botoxbehandlungen – die Falten werden einfach weggespritzt. Allerdings muss man sich über das Verfallsdatum dieser Substanz im Klaren sein. Sonst kann es passieren, dass mitten in einem wichtigen Gespräch die Wirkung nachlässt, die glatte Haut sich faltet und der eine Geschäftspartner plötzlich ganz alt aussieht.

Erschienen in HR Today

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