Salzstreuer

Das war’s

Das war’s. Das Jahr 2019, es ist Geschichte. Und auch der Salzstreuer, er ist Geschichte, die Saline ist ausgebeutet, die Salzkammern leer. Ich danke Ihnen, liebe Leserinnen, liebe Leser, dafür, dass Sie die Geduld hatten, meine Beiträge zu lesen. Ich verstehe vollkommen, wenn Sie keine Lust hatten und im «Tößthaler» weiter geblättert haben. Ich habe mich über die Reaktionen in den letzten zweieinhalb Jahren und für den einen oder anderen Tipp sehr gefreut. Mir die Themen auszudenken und sie für den Salzstreuer zu verarbeiten, hat mir grossen Spass gemacht.

Etwas enttäuscht war ich, dass kaum Beanstandungen gekommen sind. Anregende Kritik hätte mich beflügelt. Schade. Manchmal hatte ich das Gefühl ich schreibe ins Leere, wusste nicht, ob es ankommt oder nicht, vermisste ein Feedback. Doch die Freude, jede Woche zu schreiben, hat das aufgewogen. Auch wenn ich das eine oder andere Mal zweifelte, ob mir noch was einfällt.

Morgen beginnt das neue Jahr 2020. Ich wünsche Ihnen allen, dass es viel Erfreuliches, wenig Unangenehmes und grosse Zufriedenheit und Ausgeglichenheit für Sie und die Welt bringt. Mögen sich private, politische, nationale und internationale Konflikte lösen, mögen alle Menschen an einem Strick für unsere eine Welt ziehen, mag jeder sein Bestes für das Beste der Erde geben.

Selbstverständlich kann ich nicht ohne Schreiben leben, daher bin ich mit der Redaktion übereingekommen, eine neue Form auszuprobieren und Ihnen vorzustellen : «Aufgefallen – gedacht». Dabei stehen Zitate, Bilder, Situationen, Sprichwörter und Ähnliches im Mittelpunkt, lauter Themen aus dem Alltag, die mir auffallen. Darüber will ich schreiben. Warum mich etwas angeregt, welche Gedanken es auslösen, ob es mich freut oder ärgert. Kurz, es soll ein Potpourri werden.

Ich freue mich auf Ihre Reaktionen und wünsche Ihnen einen guten Rutsch ins 2020.

Salzstreuer 52 / 19

 

Die Sache mit dem Licht

Heute Abend ist es wieder soweit: Kerzen erhellen den dunklen Winterabend. Seien sie aus Wachs, Paraffin oder mit LED-Lämpchen bestückt, sie verbreiten eine sanfte Atmosphäre, beruhigend, festlich. Licht, in diesen kurzen Tagen eine wohltuende Erscheinung, weckt Hoffnung, dass es nicht immer so dunkel bleibt. Es ist doch beruhigend, dass wie nicht im hohen Norden leben, wo es im Winter kaum dämmert. So viele Kerzen, um dieses Dunkel zu durchbrechen und ins Helle zu drehen, gibt es gar nicht. Glücklicherweise verzaubert dort das Polarlicht, mit seinen Leuchterscheinungen die Eislandschaft.

Noch schlimmer ist die Vorstellung, dass es Lebewesen gibt, die nur im Dunkeln leben. Ihre Augen sind verkümmert. Ich denke hier an die so genannten Nacktmulle. Sie existieren in grossen unterirdischen Höhlen, zeichnen sich durch kaum Behaarung und zwei auffallend grosse Nagezähne aus. Damit nagen sie sich durch den harten Wüstenboden, immer im stockdunklen. Etwas besser haben es Maulwürfe, sie kommen wenigstens ab zu ans Licht, wenn sie ihre Erdhaufen aufwerfen. Auch die Vorstellung in der dunklen, feuchten Erde zu vegetieren ist nicht besonders angenehm. Wie behaglich ist es doch in unseren geheizten Zimmern, vor allem wenn draussen der Wind heult und die Schneeflocken wild durcheinander wirbeln. Mir ist schon bewusst, dass dies eine Vorstellung ist, die mit der Realität wenig zu tun hat, lässt uns die weisse Pracht doch schmählich im Stich. Gewöhnen wir uns also ans frühe Dämmern.

Auch wenn wir an akutem Sonnenmangel leiden, wissen wir doch, dass dem kürzesten Tag bald die Tag- und Nachtgleiche und dann gar der längste Tag folgt. Wenn es nur hell wäre, würden wir uns auch wieder beklagen. Wegen des Schlafens, das bei Licht eher unruhig wäre. Geniessen wir also wie es ist, erhellen wir unsere dunklen Festtage mit warmem Kerzenlicht und einem Glas funkelnden Punsch. Kommen dann noch die Düfte von frischen Mandarinen, Zimtsternen und Anisbrötchen dazu, können wir los lassen, den Vorweihnachtsstress beiseite legen und einfach glücklich entspannen. Fröhliche Weihnachten.

Salzstreuer 51 / 19

 

Sehnsuchtsorte

Ouagadougou, Timbuktu, Monte Carlo, Sansibar – welch geheimnisvoller Klang der Namen. Magische Orte. Sie wecken Assoziationen in mir, ein Hauch von Abenteuer, geheimnisvollen Welten, Luxus. Ebenso wie Atlantis oder die hängenden Gärten der Semiramis. Bezeichnungen, die auf der Zunge zergehen, Gebilde, die vor dem geistigen Auge zu von einmaliger Faszination wachsen, welche die Sehnsucht wecken, sie zu besuchen. Würde ich allerdings meinen Gelüsten nachgeben und dorthin reisen, wäre ich sicher enttäuscht. Timbuktu ist eine total sandige Oasenstadt, die Hauptstadt von Burkina Faso, eine Millionenmetropole, in Monte Carlo hätte ich nicht die nötigen Mittel, um den Luxus zu geniessen, Sansibar war der Sklavenumschlagplatz par excellence und die beiden anderen sind der Sage entsprungen.

Fantasie und Realität klaffen oft weit auseinander. So stelle ich mir die Aussicht vom Dhaulagiri – auch so ein magischer Name – extrem schön vor, vergesse aber die quälerische Anstrengung, bis ich dort bin. Abgesehen davon, dass ich das sowieso nicht schaffe. Ich habe gelesen, dass man (fast) alles erlernen kann. Also lese ich in Fachbüchern wie man beispielsweise ein wunderschönes Büchergestell aus Holz zimmern kann, um dann diese Bücher zu verstauen. Ich weiss, Sehnsuchtsorte und Büchergestell haben nicht sehr viel miteinander zu tun dennoch soll der Vergleich sein: ich skizziere dann Pläne, messe genau, säge an Brettern herum, stelle mehrere zusammen, leime und schraube und siehe da – da steht ein Holzhaufen, sieht aus wie ein Regal und wackelt auch ohne Erdbeben. Aus meiner Fantasie und der Sehnsucht nach einem selbstgebauten Büchergestell holt mich die Tatsache, dass ich zwei linke Hände habe, brutal in die Realität.

Gut, Büchergestell und Timbuktu sind wirklich weit voneinander entfernt. Aber beide haben mit meiner Sehnsucht nach einem erwünschten Etwas zu tun, das mir vorschwebt. Einmal als magischer Klang, einmal als unerreichbare Fähigkeit. Es ist lebensnotwendig um die Realität zu wissen, die Augen nicht vor der tatsächlichen Welt zu verschliessen. Aber genau so wichtig und lebensnotwendig ist es, sich magische Orte und Momente zu bewahren. Denn wie eng wäre die Welt, reichte sie nur zum nächsten Gartenzaun.

Salzstreuer 50 / 19

 

 

Mist, verpasst!

Oh je, jetzt habe ich den Black Friday verpasst. Dabei wollte ich unbedingt von den Schnäppchen profitieren. Ich wollte ganz viele verschiedene Sachen billig einkaufen. Zwar brauche ich nichts, aber wenn es den Black Friday schon gibt, muss ich ihn ja nutzen. Denn mir reicht es nicht, dass ich bereits am Valentinstag, Muttertag, im Ausverkauf oder sonst in einer %-Woche mein sauer verdientes Geld so locker los werde. Und dabei noch das Gefühl habe, ich spare und profitiere – nein, der von den USA importierte Black Friday muss unbedingt sein. Wir übernehmen gerne die Einflüsse aus den Staaten ohne sie zu hinterfragen – sei es Thanksgiving oder Halloween.

Denn was wären wir ohne diese auswärtigen Einflüsse? Ein biederes Volk von Menschen, die kaum dazu kommen, Umsatz und Geschäft anzukurbeln, die zu wenig Gelegenheit haben, das Geld auszugeben. Was ist schon ein Ausverkauf, der einmal nach Weihnachten stattfindet, so wie früher? Bei dem alle zur Eröffnung die Warenhäuser stürmten. Das ist heute friedlicher, weil nicht mehr alle zur gleichen Zeit die Ersten sein müssen. Heute gibt es schon den Vor-Ausverkauf, die ständig herunter gesetzten Preise, den Nach-Ausverkauf. Ganz zu schweigen von den unerschöpflichen Möglichkeiten des On-Line-Shoppings. So werden neue Absatzmärkte gefördert, etwa die von den Kürbissen und den Truthähnen, die Paketzustelldienste steigern dank Zurücksendens von Fehlbestellungen den Umsatz, das Verbraucherverhalten wird allgemein massiv gefördert, der reine Konsumkapitalismus siegt mit grossem Vorsprung.

Dass dabei eine massive Inflation statt findet, scheint kaum jemand zu stören. Dabei meine ich nicht das Geld, nein, von Geldpolitik verstehe ich nichts, ich meine das Überangebot an Gleichem. Früher gab es einen Weihnachtsmarkt in Nürnberg und allenfalls noch in Dresden, heute überall. In Zürich sogar mindestens dreifach: Im Hauptbahnhof, auf dem Münsterplatz und vor dem Opernhaus. Und überall gibt es dasselbe: Glühwein, Duftkerzen und Magenbrot. Klar, das ist grob vereinfacht. Aber leben wir nicht in einer Zeit, in der komplizierte Sachverhalte schlicht zu einfachen Floskeln verkürzt werden? Hauptsache der Konsum stimmt. Oder?

Salzstreuer 49 / 19

 

Tormentarius enervierans

Diese Worte bedeuten genau das, was Sie empfinden, wenn sie das nicht verstehen: «enervierende Folter/Qual», also «Quälgeist». Ein anderer Name für das Phänomen ist «Nervensäge». Dass können allerlei Personen, andere Lebewesen oder Gegenstände sein. Zum Glück ist jetzt die Zeit der Lästigsten fast vorbei – die Fliegen lahmen nur noch matt herum. Es ist kein Problem sie zu erwischen. Allerdings sollte sich dabei das Gewissen regen. Denn auch die lästigen, sich auf Mist und Käse setzenden Insekten sind Lebewesen. In England sind sie sogar hoch geachtet.

Wir wollten vor Jahren bei Harrods, dem berühmten Warenhaus in Londons Knightsbridge, «en Flügetätsch», eine Fliegenklatsche, kaufen. Doch ein distinguierter Verkäufer fragte uns ernsthaft empört, ob man auf dem Kontinent «the poor little creatures brutally beat to death?», «ob man die armen kleinen Kreaturen brutal totschlage?». Und in der Stadt Bath fotografierten wir eine Strassentafel mit der Aufschrift «Fly tipping is an offence under Environmental protection Act (1990). Offenders may face up to a £ 50,000 fine and/or a prison sentence». Also etwa: Fliegentöten sei ein Angriff auf den Umweltschutz, man könne mit einer Busse von £ 50’000 oder Gefängnis bestraft werden.

Aber Nervensägen sind die Biester dennoch, ebenso wie Katzen, die Beete mit Klos verwechseln, gedruckte Werbung, die trotz Unerwünscht-Schild im Briefkasten landet oder Politiker und Politikerinnen, die alles versprechen und wenig halten. Quälgeister sind noch schlimmer, sie üben ihre Tätigkeit aktiv aus. Etwa Eltern, die ihren Kindern den ungeliebten Spinat aufzwingen oder Kinder, die ihren Eltern unentwegt mit Taschengeldforderungen im Ohr liegen. Ängste fallen ebenfalls unter diese Gattung. Sie quälen mit der unsicheren Zukunft, der unheilbaren Krankheit oder dem versiegenden Bankkonto. Am quälendsten aber ist die Unsicherheit.

Doch zurück zu den Nervensägen. Ihnen begegnet man am Besten mit Gegensägen. Wer Sie nervt, den müssen Sie entweder meiden oder so lange nerven, bis sie sich genervt von Ihnen abwenden. Hat man dieses Spiel einmal begriffen, macht es wirklich Spass. Und je perfekter Sie darin werden, desto leichter ist Ihr Leben. Das glauben Sie nicht? Probieren Sie es.

Salzstreuer 48 / 19

 

Heilen und geheilt werden

Permanente Kopfschmerzen, gebrochener Fuss, Durchfall, vereiterte Pusteln auf dem Arm – klar, der Doktor soll’s richten. Die ehemaligen Halbgötter in Weiss sind zu Dienstleistern mutiert. Sie sollen gefälligst Schmerzen verbannen, Fieber senken, nähen, pflastern und Haut ausbügeln – mit Botox. Dazu sind sie in unserer Gesellschaft da.

Das ist und war nicht in allen Gesellschaften so. Oft waren Doktoren Priester oder Schamanen und ihre Heil bringende Kunst verdankten sie den Göttern, Geistern und anderen übersinnlichen Wesen. Im alten, kaiserlichen China musste der Hofarzt nicht den kranken Kaiser heilen, seine Aufgabe war es, den Kaiser nicht krank werden zu lassen.

Er musste die Naturgesetze nach der Lehre des Tao auf den menschlichen Organismus anwenden. Gelang ihm das nicht und der Kaiser erkrankte, wurde der Arzt wegen Nichterfüllen der Aufgabe zu Tode gebracht.

Ganzheitlich im Einklang mit der Natur versteht sich auch die traditionelle indische Heilkunst «Ayurveda», das «Wissen vom Leben». Die Krankheit wird als ganzheitliches Problem gesehen und auch so behandelt.

Die Spezialisierung in Chirurgen, Augen- Nasen- oder andere Ärzte gibt’s dort nicht. Der Arzt weiss, wie im Körper alles zusammengehört und zusammenspielt, er weiss, wie Symptome von Defekten verursacht werden können, die nichts mit den aktuellen Schmerzen an einer Körperstelle zu tun haben.

Doch zurück zu uns. Also die Ärzte haben es wirklich schwer. Sie studieren jahrelang und eignen sich grosses Wissen an. Und jetzt kommen Patientinnen und Patienten mit bestimmten Wehwehs zu ihnen. Sie haben ihre Anzeichen und Symptome schon vorsorglich gegoogelt, wissen bereits, was der Arzt machen muss, welche Medikamente er verschreiben soll.

Denn sie haben nicht nur Wikipedia konsultiert, sie kennen auch den «Bergdoktor», «In aller Freundschaft» oder «Grey’s Anatomy», alle massgeblichen Gesundheitssendungen in Radio und TV. Alle Möglichkeiten von Behandlungen und Therapien haben sie aufgesogen, sind somit bestens qualifiziert. So sind sie in  der Lage, den Hausarzt zu instruieren.

Ich stell mir das Leben der Ärzte nicht einfach vor. Denn schliesslich leben wir in einer aufgeklärten Welt, in der alle über alles Bescheid wissen. Und dies meist gründlicher und besser als die Fachleute. Aber immerhin werden die Doctores nicht mehr geköpft.

Salzstreuer 47 / 19

 

Kaffeemaschinen

Es war quasi der Mega-Gau: kein Kaffee! Kaffeemaschine kaputt! Am Morgen früh! Der Behälter, der das gemahlene Pulver auffängt, lässt sich nicht mehr in die Maschinen schieben. Kaffee trinken passé. Wachwerden eine mühsame Angelegenheit. Und dann lag da noch so ein komisches Plastikteil, das irgendwo rausgefallen war.

Mit meinem eher unterbemittelten technischen Geschick war an Reparieren nicht zu denken. Aber wegen einer Kleinigkeit gleich den ganzen Automaten weg zu schmeissen, ist schlicht dumm. Und der erste Samstag im Monat, an dem das Repaircafé geöffnet hat, war vorgestern. Das heisst warten, fast einen Monat lang, bis zum nächsten ersten Samstag, an dem es wieder geöffnet ist. Pulverkaffee trinken – jetzt kenne ich alle Varianten der Zubereitung: mit einem Löffel, mit zwei und drei Löffeln, mit lauwarmem, mit siedendem Wasser, mit Zucker, ohne Zucker…

Endlich war der ersehnte Samstag da. Ich brachte die Kaffeemaschine ins Café. Doch dort beschied man mir, dass es mit sofort reparieren nichts werde. Meine Enttäuschung musste derart offensichtlich gewesen sein, dass man mir als Trost einen Kaffee und ein Stück selbstgebackene Quittenwähe kredenzte. Also wieder einen Monat lang Pulverkaffee. Die verschiedenen Zubereitungsvarianten hatte ich jetzt schon alle hinter mir. Also stieg ich auf Tee um. Ein Monat später: Die Kaffeemaschine kommt auf den Operationstisch. Ich stehe neben dem behandelnden Reparateur – nennen wir ihn Sven – schaue ihm zu und staune, was alles hintern der Hülle eines Kaffeeautomaten an Kabeln, Gewinden, Zahnrädern und dergleichen versteckt ist. Und ich bewundere die Geschicklichkeit von Sven, der so etwas auch noch nie gesehen hat, das Plastikteil wieder implantiert und so die Kaffeeproduktion wieder ankurbelt.

Im Repaircafé sind Kaffeemaschinen die meist gebrachten Gegenstände. Kaffeetrinkerinnen und Kaffeetrinker scheinen eine grosse, verschworene Gemeinschaft zu sein. Fragt sich, ob die Apparate zu stark beansprucht oder zu schwach konstruiert werden. Egal, die geschickten Flickhände der freiwilligen Flickengel schaffen dankenswerter Weise Abhilfe.

Salzstreuer 46 / 19

 

Verschiedene Materialien – ein Name

Sie sind krumm, rostig, dreckig, lang, brüchig, bunt. Man kann sie auf den Kopf hauen, mit den Zähnen kauen, schneiden, feilen, versenken, bemalen. Man findet sie in Wänden, Brettern, an Zehen, im Studio. Sie sind aus Stahl, Holz, Eisen, Horn.

Sicher haben Sie es erraten – Nägel sind unsere heutigen Objekte. Sie sind allgegenwärtig, deshalb brennt mir das Thema mir auf den Nägeln. Der Ausdruck stammt wahrscheinlich aus der Welt der Klöster, ehe es elektrisches Licht gab. Die Mönche befestigten eine kleine Kerze auf einem Daumennagel, um des Nachts die Gebete oder die heilige Schrift zu entziffern, lesen und beten zu können. Je nachdem wie gross das angestrebte Pensum war oder wie gut der Mönch lesen konnte, dauerte es etwas länger, die kleine Lichtquelle brannte herunter und des «brannte» auf den Nägeln.

Feuer und Nägel sind ein Thema. Denn früher wurden Nägel in der Esse im Feuer geschmiedet, waren also unmittelbar der Hitze ausgesetzt. Ich denke natürlich an die eisernen Rossnägel, die den Tieren zwecks Befestigung des Hufeisens, ins hornige Huf getrieben werden. Behufen von Pferden bildet quasi die ultimative Vereinigung der beiden Nagelformen. Ob benagelte Pferdefüsse damit – praktisch wie Winterreifen am Auto – dem Betriebskomfort dienen oder körperliche Schmuckstücke sind, sei dahingestellt. Schliesslich erfolgt die Bearbeitung bei einem Schmied und nicht im Nailstudio, wo es um Schönheit der Nägel geht. Dort werden sie mit diversen Aufklebern aufgepeppt.

Das Bemalen der Nägel kann auch einem rein politischen Zweck dienen: um in Indien zu erkennen, wer zur schon gewählt hat, kriegen die Nägel Farbe ab. Man hat allerdings keinen Einfluss auf Farbe oder Form. Obwohl die Form und Grösse eine grosse Rolle als Erkennungszeichen spielen kann: der lange kleine Fingernagel zeugte im alten China davon, dass der Besitzer reich war, es also nicht nötig hatte, einer Arbeit nachzugehen. Wohingegen kurze Nägel der linken und lange der rechten Hand einen Gitarristen verraten.

Interessant finde ich die These des St. Galler Künstlers Jan Kaeser, dass in Fingernägeln ein Stück Seele stecke. Ob das für Nägel aus Stahl auch zutrifft, wage ich zu bezweifeln. Wie auch immer, Nagel ist nicht gleich Nagel.

Salzstreuer 45 / 19

 

Treffen – aber keine Dates

Auf meinem Weg zur Arbeit quer durch die Stadt, bin ich jeden Morgen um zehn nach sieben einem Mann begegnet. Er war in Gegenrichtung ebenfalls unterwegs zum Job. Nach einiger Zeit – es hat schon ein paar Wochen gedauert – begrüssten wir uns mit einem «Hallo». Mehr war nicht. ich weiss nicht, wie er heisst, was er arbeitet, rein gar nichts. Nur dass er jeden Morgen meinen Weg kreuzte. Das ist jetzt etwa 35 Jahre her. Diese Begegnungen sind mir geblieben, ein Menschen, der grüsst und lächelt, war irgendwie beruhigend. hatte och doch eine schwierige Zeit, war alleine und arbeitete an einem Ort, der zwar interessant war, jedoch nichts mit meinen Berufswünschen zu tun hatte. Seither versuche ich unbekannten Menschen – wenn möglich – mit einem Lächeln zu begegnen.

Vor kurzem war ich im Lift eines Bürokomplexes. nach einigen Stockwerken stieg jemand zu, ich grüsste. Das «Grüezi» wurde erwidert, ebenfalls das Lächeln. Dann stieg ich aus und wünschte einen guten Tag. Worauf das Gesicht der Person erstarrte, als ob ich sie angegriffen hätte. Hatte sie an diesem Tag etwas Unangenehmes oder Schwieriges vor sich? Bin ich mit meinem ahnungslosen Wunsch in einen grösseren Fettnapf getreten? Ich weiss es nicht.

Aber egal. Mich fasziniert, wie Menschen auf ungewohnte Begegnungen und Situationen reagieren. Beispielsweise wie erwähnt, in einem Lift. Für kurze Zeit sind fremde Menschen im der intimen Atmosphäre eines engen, kleinen Raums auf einer Nähe zusammen gepfercht, die man sonst höchsten mit Partnerinnen, Partnern, Freunden und Verwandten teilt. Meist wird die Lage peinlich. Man traut sich kaum das Gegenüber anzusehen, starrt hilflos zu Boden und hofft, dass man bald auf der gewünschten Etage fliehen kann. Unbefangen sind einzig Kinder und schnüffelnde Hunde. Was wiederum Eltern und Besitzern peinlich fordert. Oft wird die Frage gestellt, mit wem man in einem Lift stecken bleiben möchte. Ich bin allerdings überzeugt, dass in einem derartigen Fall die Hemmungen etwas Kluges zu bemerken oder das zu sagen, was man diesem Menschen schon immer sagen wollte, so gross ist, dass es beim Schweigen bleibt. Was meinen Sie dazu?

Salzstreuer 44 / 19

 

Dunkle Ecken in den Gehirnwindungen

«Stöbere lieber nicht in deinem Kopf herum, dort ist es sehr gruselig». So. Da war er in meinem Kopf, dieser Satz aus irgendeinem Krimi. Erst wollte ich ihn überlesen, dann blieb er haften und er – obwohl er für eine Romanfigur gedacht war – trieb mich zum Stöbern. Zunächst fand ich gespeicherte Termine: in drei Wochen zum Zahnarzt, Geburtstag von XY, Treffen mit meinem Freund, Pneuwechsel, die Krankenkassenprämie bezahlen. Das ist ja gar nicht so schlimm, bis nichts von gruselig. Wahrscheinlich hat die Krimiautorin wirklich nur ihre Kunstfigur gewarnt, nicht zu viel zu grübeln. Die war als Mitglied der Mordkommission ja auch mit entsetzlichen Leichenfunden konfrontiert. Da ist Vergessen – besser in die hinterste Ecke des Kopfes verbannen – sinnvoll.

Ich suchte in meinem Kopf weiter – tatsächlich fand sich eine sehr blutige Erinnerung. Nicht etwa die zahllosen Schürfungen, kleinen Schnitte oder so, nein, ein richtig gruseliges Bild. Ich muss etwa zehn oder zwölf gewesen sein, die ganze Familie in den Herbstferien im Engadin. Wir wanderten durch einen Lärchenwald, ziemlich nahe der Baumgrenze. Da entdeckten wir Pilze – selbstverständlich streiften wir durchs Unterholz, um weitere zu finden. Stattdessen fand ich ein blutiges, fliegenbedecktes, gruusiges Etwas. Man erklärte mir später, dass es sich um die Innereien eines Tieres gehandelt hat. Es war Jagdzeit, die Jäger nahmen ein geschossenes Wild aus und liessen die Innereien als Nahrung für Füchse oder so liegen.

Und weil ich schon am Stöbern war, kamen mir ganz viele Bilder aus jener Zeit hoch: die Hitze im Sommer, wenn wir dem Nachbarsbauer beim Heuen halfen, die Skipiste, die wir erst trampeln mussten, ehe wir hinab fahren konnten, der böse Hund, der sich immer schrecklich in Szene setzte, wenn ich Milch mit dem Chesseli holen musste. Aber so richtig gruseiliges fand ich nicht. Gut, es tauchten schon ein paar Geschichten auf, die ich in die dunkelsten Hinterhirnhälften verbannt hatte. Da war zum Beispiel die Begegnung mit…

Jetzt merke ich gerade, dass die Zeichenzahl für diesen Salzstreuer erreicht ist. Schade, jetzt darf ich nicht weiter stöbern. Vielleicht ein anderes Mal. Stöbern Sie auch manchmal?

Salzstreuer 43 / 19

 

Heimat der Tiere

Noch sind die grossen Wagenräder auf den hohen Stangen leer. Sicher bis zum Frühjahr, wenn die Störche wieder zurück aus dem Süden sind und ihre Nester am gewohnten Ort bauen werden.  Und dann kann man die schwarzweissen Flieger mit den roten Schnäbeln beim wieder Nisten und Brüten durch die Ferngläser verfolgen, die am Wegrand im Zoo fest installiert und genau auf das künftige Nest gerichtet sind. Spaziert man dann weiter, muss man aufpassen, dass man nicht gerade einem schmucken Huhn oder einer watschelnden Ente in de Quere kommt. Ein Besuch im Zoo von heute hat nichts mehr mit dem Besuch des Zoos meiner Kindheit zu tun.

Sorchennest Marokko © gal

Ich erinnere mich an Häuser mit engen Gittern, in denen beispielsweise der schwarze Panther hin und her tigerte und die Elefanten von angekettet von einem Fuss auf den anderen standen, Gewichtsverlagerung nach links, nach rechts, immer wieder, immer wieder, immer wieder. Oder an das damals berühmte Gorillababy Goma, das sich ängstlich an seine Mutter klammerte. Und an die Giraffen in Basel, die unendlich lange Hälse hatten. Gut, lange Hälse haben Giraffen auch heute noch, doch sie haben nun mehr Raum, um sich zu bewegen. Die Veränderungen sind eklatant, statt in Käfigen und Ställen leben die Tiere heute in Landschaften, die ihrer Herkunft entsprechen. Beispielsweise die erwähnten Elefanten: sie hausen in Zürich auf 11’000 m2 im Elefantenpark, haben ein Schwimmbecken und Ecken, in denen sie sich verstecken können, wenn ihnen das Angeglotze durch Besucherinnen und Bescher auf den Wecker geht.

Die Form für die Lebensweise der Tiere und die Funktion haben sich verändert, der Name Zoologischer Garten ist geblieben. Während es früher um die Zurschaustellung exotischer Tiere ging, sind heute Forschung und Arterhaltung das Zentrale. Denn wie die Vertreter der Tierwelt aussehen, ist dank Film, TV, Fotografie und Internet keine Überraschung mehr. Doch da wir Menschen die Gabe besitzen, die natürliche Umgebung einzelner Lebewesen aus verschiedenen – meist gewinnmaximierenden – Gründen zu minimieren, wenn nicht gar ganz zu zerstören, ist die Artenvielfalt extrem gefährdet. Vielleicht sind die Bemühungen der Zoos in dieser Hinsicht mehr als nur ein Tropfen auf den berühmten heissen Stein.

Salzstreuer 42 / 19

 

Vergessen vergessen

«Ich hab Dich zu vergessen vergessen» – dass diese Chanson-Zitat von Georg Kreisler aus dem Jahr 1961 nach fast sechzig Jahren richtig brisant ist, verdanken wir den Social Media. Denn was einmal gepostet wurde, bleibt ewig, wird nie vergessen, Löschen gilt nicht. Halt, das ist der falsche Ausdruck: Löschen geht nicht, muss es heissen. Was man in fröhlichen, meist unbedachten Momenten, auf Facebook postet, um seinen Freunden, Followers oder was auch immer, eine Freude zu bereiten, wird gespeichert bis in alle Ewigkeit. Sei es ein blöder Spruch oder ein verfängliches Foto oder eine üble Beleidigung. Das kann ziemlich ärgerlich sein. Nicht nur für Politikerinnen und Politiker, deren Wahlversprechen unauslöschlich da stehen, auch für Stellensuchende oder auf der Karriereleiter steigende.

Früher hiess das: «in Stein gemeisselt», heute heisst das «auf Instagram, Twitter Facebook (und wie sie alle heissen) gepostet». Der Effekt ist nicht ganz derselbe. Während die in Stein gehauenen Buchstaben und Zeichnungen nach Jahrtausenden der Erosion zu Opfer fallen, bleiben die Fotos und Posts ewig. Mit allen Konsequenzen.

Auch das ist ein Beweis, dass der Lauf der Zeit alles wandelt. Heute versucht man, einmal fest Gehaltenes der Vergessenheit zu überlassen, aus dem kollektiven Gedächtnis zu streichen. Ganz anders in den Zeiten vor dem World Wide Web. Früher tat man alles dafür, dass man bekannt wurde, dass man einen Eintrag in Wikipedia erhielt, erst dann war mein ein wichtiger Mensch. Oder – noch besser – im Guinnessbuch der Rekorde auftauchte. Sei es, weil man am schnellsten 100 Wienerli vertilgte, weil man das höchste Gebäude in der kürzesten Zeit erklommen hat oder weil man sich am längsten geküsst hat. Auch der Gesellschaft mehr oder weniger nutzbringende Tatsachen verhalfen zum Eintritt in die Ruhmeshallen der Unvergesslichkeit. Die Erfindung des Penicillins etwa, oder der erste Schritt auf dem Mond. Das sind auch ganz andere Sachen als die verfängliche Situation oder das versoffene Gesicht, das man aus einer Festlaune heraus dem Web anvertraut.

Das Web ist gleich wie die erste Liebe, es vergisst nichts – «ich hab Dich zu vergessen vergessen».

Salzstreuer 41 / 19

 

Tristesse

Es tropft und tropft beharrlich. Der Regen hat das Tösstal übernommen. Zwar ist es noch nicht kalt, doch die der triefenden Nässe scheint die Temperaturen zu drücken. Die Welt ist unfreundlich und wenig einladend. Es ist nicht der Regen, der im Sommer heiss ersehnt ist, der Garten und Seele nach Hitzetagen erfrischt. Nein, es ist der lähmende Regen, der ohne Hoffnung auf einen noch so winzig kleinen Sonnenstrahl unerbittlich schüttet und schüttet und schüttet… Vögel haben sich verzogen, Hunde und Katzen verkriechen sich. Alles ist trostlos.

Ich starre hinaus, meine Tatkraft scheint weggespült, meine Ideen verwässert. Doch dann realisiere ich, dass nicht die Aussenwelt in Tristesse versinkt, sondern ich. Dass ich am üblichen Herbst-Blues leide, dass ich mich von diesem bisschen Wasser einschüchtern, lähmen und in ein Loch jagen lasse. Das darf nicht sein. Denn was gibt es Schöneres, als im Trockenen zu sitzen, dem Regen zuzuschauen und nicht in den Schiff hinaus zu müssen. Der Garten kann Garten bleiben, die ungewollten Pflanzen können wuchern, Giessen fällt aus. Wenn dann noch ein duftender Kaffee, ein gutes Buch oder schöne Musik dazu kommen, ist das Leben beinahe perfekt.

Herbst – es sei Zeit, der Sommer sei sehr gross gewesen, schreibt Rainer Maria Rilke in seinem berühmten Gedicht «Herbsttag». Und zum Herbst gehören nun mal Regen und Winde. Und selbstverständlich wunderbare Gerichte mit Pilzen, Kürbis oder Wild, Früchte wie Äpfel und Birnen, Getränke wir Most und Sauser. Genuss pur, die Freude am neuen Wein, die bunt bemalten Laubwälder und die längere Abende bestimmen diese Jahreszeit. Alle Freunde und Bekannte sind aus den grossen Ferien zurück, man kann sich wieder zu gemütlichen Fondueabenden treffen, die Theater präsentieren die neuen Programme, die Konzertsaison ist neu eröffnet. Und noch regnet es nur. Noch trauen sich die Schneeflocken nicht ins Tal. Und jetzt reisst gar der Himmel auf, einige laue Sonnenstrahlen zeigen sich, die Wälder leuchten. Die Tristesse ist verbannt. Übrigens: Tristesse ist die pessimistische Verwandte von der Melancholie. Und etwas Melancholie im Herbst hat noch nie geschadet.

Salzstreuer 40 / 19

 

Das Schicksal eines T-Shirts

Es ist bestimmt schon über zehn Jahre her, seit ich das orange T-Shirt als Geschenk erhielt. Ich habe mich sehr gefreut, es passte wunderbar und hat sich sofort zu meinem Lieblingsleibchen gemausert. Es passte wie angegossen, dehnte sich mit meinem Wachstum parallel aus. So vor etwa drei Jahren war es so labberig, dass ich mich damit wirklich nicht mehr an die Öffentlichkeit trauen konnte. Immerhin für die Gartenarbeit war es das perfekte Outfit. Doch jetzt besteht es eigentlich nur noch aus Löchern, die von einem abgebleichten orangenen Stoff zusammengehalten werde. Ich glaube, ich muss mich endgültig von ihm verabschieden – schwersten Herzens.

Nun, es war ja nur ein Leibchen. Was aber passiert mit anderen wichtigen Kleidungsstücken, wenn sie entsorgt werden? Etwa mit dem Konfirmationsanzug? Früher wurde er besten Falls an den jüngeren Bruder vererbt. Heute wandert er – wenn er Glück hat – im Secondhandshop oder auf dem Flohmarkt. Wahrscheinlicher ist, dass der abgetragene Anzug in der Altkleidersammlung landet und dann zu einem dieser bunten Flickenteppiche mutiert. Die Vorstellung ist schrecklich, dass er, der feierliche Worte in der Kirche gehört hat, später bei festlichen Gelegenheiten getragen wurde und vielleicht gar die erste Verliebtheit im Tanzkurs – damals gab es noch solche Sachen – miterlebt hat, nun einfach von fremden Füssen und Schuhen getreten und betrampelt wird.

Was ist mit den vielen Erinnerungen, die so ein Lieblingskleidungsstück mit sich rumträgt? Gehen die beim Entsorgen verloren? Gut, mir ist schon klar, dass die Erinnerungen in mir und nicht in einem Stück Stoff haften. Aber vergesse ich die zahlreichen Stunden in dieser Kleidung nicht eher, wenn ich sie nicht mehr trage und sehe? Besser gesagt – gewissen Gegenstände und Kleider erinnern mich an ganz spezielle Ereignisse. Wenn jetzt diese Erinnerungsträger weg sind, drängen sich die Erinnerungen nicht auch mit ihnen in den Hintergrund?

Schluss mit Sentimentalitäten. Kleider sind Kleider und Erinnerungen sind Erinnerungen. Basta. Ich kann ja schliesslich nicht jeden Stofffetzen als Gedächtnisstütze aufbewahren. Tagebuch schreiben ist einfacher und Platz sparender.

Salzstreuer 39 / 19

 

Vom Nutzen des Ärgers für das Leben

«Merdre», dieser klassische Stückanfang des französischen Autors Alfred Jarry (1873 bis 1907) für seinen «Ubu Roi », ist der optimale Ausruf um seinen Ärger loszuwerden. Nicht «Merde», «Scheisse» – das wäre schlicht zu primitiv – sondern eben «Schreisse». Es ist die bessere Variante als dreinzuschlagen, die Quelle der Unbill umzubringen oder zu demolieren.

Da fuhr ich neulich gemütlich über den Bahnübergang bei Rikon. Und plötzlich – ein Blitz. In Gedanken versunken, hatte ich nicht aufgepasst und den Blechfotografen schlicht vergessen. Dabei steht er schon seit einer Woche dort. Na ja, selber blöd, dachte ich bei mir. Doch zwei Tage später wieder – Blitz. Und jetzt ärgerte ich mich gewaltig. Auch über mich. Die Tage danach fiel mir auf, dass die Autos in Rikon nur so dahin schleichen. Alle langsamer als die erlaubten 50 Stundenkilometer. Eigentlich logisch, denn wer will schon das Risiko eingehen, sein sauer verdientes Geld für unvorteilhafte Fotografien auszugeben?

Die Folgen von allzu korrektem Fahren wären allerdings schlimm: Staus bilden sich, Hupkonzerte dröhnen, der Lärmpegel wächst ins Unermessliche, Menschen erleiden vor lauter Ärger Herzattacken, die Gesundheitskosten steigen, die Krankenversicherungen werden teurer… Schliesslich müssen Mindestgeschwindigkeiten eingeführt werden. Und die Bussen bei Unterschreitung sind doppelt so hoch wie diejenigen für Raser. Also muss das Lebensziel heissen: «Nie mehr ärgern». Nicht nur im Strassenverkehr, ganz allgemein. Es gibt Kurse, Anleitungen und Lektüre dafür.

Wenn sich alle Menschen dieses Motto einverleiben, werden wir in einer harmonisch ausgeglichenen Welt leben, wo sich niemand mehr in die Quere kommt. Und vor lauter Höflichkeit und Rücksichtsnahme, gibt es keine Streitereien mehr. Niemand entwickelt mehr eine Idee oder ein Produkt, das in irgend einer Form irgend jemandem in den falschen Hals gelangen könnte. Friede und Freude herrscht. Kein Ärger bedeutet aber auch: keine Emotionen. Keine Wut, kein Lieben, kein Hassen. Somit kein Antrieb, sich etwas zur Verbesserung der Situation einfallen zu lassen. Ganz zu schweigen von den Verlusten für Juristen, Mediziner und Pharmakonzerne, die ihre Hilfe bei Gerichtsterminen, Magengeschwüren und anderen Stresssymptomen nicht mehr verkaufen können. Ergo: Ärger ist ein Wirtschaft und Wohlstand erhaltender, unverzichtbarer Faktor im Leben. «Merdre».

Salzstreuer 38 / 19

 

Trends oder das neue Yoga

«Alles fahrt Schii, alles fahrt Schii» – mit diesem Schlager besang Vico Torriani 1963 einen schweizerischen Trend, der «Mamme, Bappe und Sohn» in die Sonne auf schneeweisse Pisten trieb. Trends gab es immer wieder und wird sie immer geben. Für eine bestimmte Zeit ist eine Sache, ein Nahrungsmittel oder Sport in aller Munde und bestimmt das Leben zahlreicher Menschen. Es ist schwierig, sich dem Sog zu entziehen, schliesslich reagieren wir nicht immer rational. Sonst hätten Werbung und andere Beeinflussungsversuche keine Chance und könnten es könnte viel Geld eingespart werden. Auch Trends bestimmen unser Leben. Noch mehr – sie bestimmen unser Wohlbefinden.

Um einige Beispiele zu nennen: plötzlich verdrängte Margarine den Butter, weil sie angeblich gesünder ist. Plötzlich waren lange Haare bei männlichen Jugendlichen das Mass aller Dinge und wurden in der Gesellschaft akzeptiert. Da lenkten sogar konservative Militärköpfe ein und begegneten dem Trend 1992 mit der Einführung von Haarnetzen für Rekruten. Plötzlich wurden Schlaghosen wieder modern. Plötzlich wurde Mini, dann Maxi, dann Schlabberlook, dann Eleganz Mode – und so fort. Vor allem die Bekleidungs- und die Nahrungsindustrie setzen Trends. Einerseits spüren sie die allgemeine Stimmung und den allgemeinen Gesellschaftszustand und andererseits bereiten sie den Boden dafür, sicher auch um das Geschäft anzukurbeln. Schliesslich wird jegliche Gewohnheit mit der Zeit langweilig.

Yoga ist einer der wichtigsten Trends, der schon so lange existiert, dass er kein Trend mehr, sondern Allgemeingut ist. Doch sucht die Industrie auch da neue Wege und aktuelle Anreize. In einem Werbeprospekt eines namhaften schweizerischen Kaufhauses beispielsweise wird ein neuer Trend – die «Wohlfühlhöhle – Rückzugsort in der Natur» – beschworen. Auf professionell inszenierten Farbbildern wird die Idylle «Natur» beschworen. Da steht etwa ein Tisch mitten auf einer Wiese am Waldrand. Schön gedeckt, mit Pilz verzierter Tischdecke, Kerzen, Wiesenstrauss und deftigem Brot neben einem Korb voller Eierschwämmen und Steinpilzen. Und an Schnüren hängen mit Kräutern eingepackte Perlhühner über einem Feuer, edle Weinflaschen sind auf Moos drapiert. «Retour à la nature» wird anmächelig präsentiert.

Auf dem Waldboden liegen auch exklusiven Messer aus Damaszenerstahl, ästhetisch arrangiert. Dazu der raffinierte (?) Text: «Messerkunst – der Messerschmiedekurs ist das neue Yoga». So verdrängt halt ein Trend den anderen.

Salzstreuer 37 / 19

 

Von Zwergen, Elfen und bösen Räubern

Mässig warm war es, geregnet hatte es ganz fest, ein Freund jubelte «Genau richtiges Pilzwetter». Im Wald ständen sie bereit, ja sie würden darauf warten geschnitten zu werden. Also gutes Schuhwerk geschnürt, Faserpelz anmontiert, Messerchen und Körbchen geschnappt und los. «Wir müssen in die Höhe». Gut, hochgekraxelt. Bis es etwas flacher wurde. Er war total fit, ich keuchte hinterher. Mit Kennerblick musterte er Bäume, Bodenpflanzen und Bodenbeschaffenheit. Weiter, dann blieb er wieder stehen. Weiter. Plötzlich sagte er: «Hier steche ich in den Wald». Und weg war er. Ich schlenderte – froh über das ruhigere Tempo – weiter auf dem Weg.

Ich sah eine hübsche Waldlichtung und in meinem Pilz-Laien-Hirn stellte ich mir vor, auf einen Haufen der begehrten Objekte zuzulaufen und sie nur pflücken müsse: nichts da. Vermoderndes Laub, angefaulte Äste, vereinzelte Blumen, Mücken, Käfer, sonst nix. Da ich nicht auf Pilz-Such-Find-Resultat getrimmt bin, nahm ich mich die Einladung des halbwegs trockenen, querliegenden Baumstamm, der mich zum Sitzen aufforderte, an. Dankbar nahm ich an und genoss die Stille.

Bald realisierte ich, dass die Stille ziemlich laut war. Zirpen, diskutierende Vögel, krachende Äste, im Wind säuselndes Blätterwerk. Bei jedem Geräusch. Meine Fantasie erwachte und schenkte mir zu jedem Geräusch eine Geschichte zur Auswahl. Da eilten Zwerge vorüber, lauerten böse Räuber mit dicken Keulen hinter Büschen, eine Elfe lächelte mir verschmitzt zu – kurz, ich vergass die Realität, verwandelte mich in ein kleines Kind, verloren im Wald. Plötzlich hörte ich Schritte, Äste knackten, ich erschrak, ein Riese greift mich an. Doch es war nur mein Bekannter. Brutal beförderte er mich in die knallharten Wirklichkeit zurück.

Fröhlich schwenkte er das Körbchen, darin vier bis fünf ansehnliche Speisepilze. «Jetzt gehen wir zu Dir und kochen». Auf die Frage, wie er seine Beute zubereiten wolle, meinte er lakonisch, dass seine Frau dafür sorge, wie sie auf den Tisch kommen und murmelte irgendetwas von «Panieren» und «Ich habe keine Ahnung». Also übernahm ich das Geschäft, panierte und briet die Pilze. Die Arbeitsteilung war klar: er als Realist fand die Pilze, ich als Fantasierender bereitete sie zu. Und wir genossen gemeinsam den leckeren Fund mit einem Glas Weisswein.

Salzstreuer 36 / 19

 

ProBon oder so

«Wänd Si no d’ ProBon?» – Die Frage wird in Fachgeschäften oft gehört. Bei einem «Ja» klebt man diese dann in einen Kartonumschlag und kann bei voller Seite für CHF 10 einkaufen. Praktisch eigentlich. Und sympathischer als die elektronischen Karten der Grossverteiler, die nur wissen wollen, wie meine Einkaufsvorlieben – oder besser Gewohnheiten – sind, um mich gezielt zu bewerben. Zwar wollen die ProBon-Marken den Kundinnen und Kunden auch den jeweiligen Laden schmackhaft machen – man nennt das KundInnenbindungsprogramm –, aber die kleinen aufklebbaren Zettelchen wirken in unserer Zeit von Apps irgendwie altmodisch. Obwohl man sie nicht mehr mit der Zunge ablecken muss. Doch erinnern sie mich an meine Ferien bei meiner Grossmutter. Bei ihr gab es Silva-Bücher.

Ich muss erklären: namhafte Schweizer Unternehmen wie Steinfels, Toni-Molkerei, Thomy & Franck AG oder Lindt & Sprüngli gründeten die Genossenschaft Silva-Verlag. Gemäss Statuten «eine Vereinigung von Fabrikationsunternehmen mit dem Zweck, in Verbindung mit dem Verkauf der von ihnen produzierten Waren künstlerisch und erzieherisch wertvolle Bilderwerke herauszugeben und zu propagieren». Dort konnte man die Bilderbücher ohne Bilder. beziehen. Dann konnte man «Silva-Punkte» sammeln, die auf die Verpackung der Ware gedruckt waren. Gegen die Einsendung genügender Punkte erhielt man dann die Bilder zum Buch. Also man sammelte ebenfalls kleine Papierchen, die einem Gegenwert entsprechen, ganz wie heute.

Es waren gezeichnete und kolorierte Bildchen, die irgendwelchen historischen, naturkundlichen oder märchenhaften Dingen ein Gesicht gaben. Es gab «Heidi», «Robinson Crusoe», «Vögel», «Rosen», «Uniformen», «Eisenbahnen» und dergleichen mehr. Die Bücher waren für mich als Bub äusserst spannend. Schliesslich gab es kein TV, die exotischen oder aus fernen Ländern stammende Illustrationen vermittelten mir eine neue Welt. Ähnliche Bücher wie Lexika oder so fanden sich nur in Bibliotheken oder bei ganz reichen Leuten. Mit den Silva-Büchern konnte ich viel lernen. Und habe stundenlang jedes Detail der Bildchen studiert.

Ganz vergessen ist das System noch nicht. Ich denke an die Sammelwut, die alle vier Jahre ausbricht: Panini-Alben mit den Tschuttistars. Altbewährtes scheint immer noch Konjunktur zu haben.

Salzstreuer 35 / 19

 

Sex on the Beach

Bei einem dieser heissen Julitage spazierte ich am Tössufer entlang. Die Sonne zeigte sich von ihrer unbarmherzigsten Seite, der Wind hatte sich in die Sommerferien verzogen, das einzige Wasser, das munter strömte, war der Schweiss auf meiner Stirne. Meine Kehle trocknete aus, ich hatte Durst. Auch meine Gedanken wurden träger und plötzlich kam mir «Sex on the Beach» in den Sinn. Nicht, was Sie jetzt vermutlich denken, mir erschien das Getränk wie eine Fata Morgana vor den Augen. Ich hatte es vor einigen Wochen zum ersten Mal getrunken, es hat mir sehr gut geschmeckt, so richtig fruchtig. Dann erinnerte ich mich aber daran, dass es mit ziemlich viel Alkohol verbunden war: Aprikosenlikör, Vodka, Ananassaft, Orangensaft und Cranberrysirup.

Also so etwas Fruchtiges hätte ich bei der Hitze gerne getrunken. Allerdings ohne Likör und Vodka, nach Alkohol war mir überhaupt nicht zu Mut. Nicht einmal ein kühles, frischgezapftes Bier konnte mich locken, Ich wusste, dass es zwar erfrischend die Kehle hinab zischte, dann aber eine heimtückische Müdigkeit in meinen Körper pumpe. Ich freute mich darauf, meinen Durst zu Hause mit kaltem Pfefferminztee. zu löschen. Habe ich danach wieder etwas gekühltere, klarere Gedanken, werde ich mich sicher fragen, wer wohl alle die Fantasienamen für Cocktails und Drinks erfindet.

In unseren Vorarlbergferien stiessen wir auf eine abenteuerliche Drinkkarte: «Death in the Afternoon»,«Berliner Brandstifter», «Missionarin», «Bienenstachel» oder «Oachkatzel Colada, sie haben alle eines gemeinsam: Hochprozentiges mit Zutaten. Verschiedene Flüssigkeiten werden zusammengemixt, mit Fruchtsäften, Fruchtstücken und kleinen Papierschirmchen ergänzt und schon finden sie ihre Liebhaberinnen und Liebhaber. Je abenteuerlicher der Name, desto grösser der Reiz es auszuprobieren. So entstehen wahrscheinlich auch die Bezeichnungen. Je mehr man probiert hat, desto blühender die Fantasie und umso abenteuerlicher die Titelkreation.

Noch flimmerte die Landschaft, noch war ich nicht im Schatten, noch quälte mich der Durst. Der Gedanke an den kalten Tee machte mich ganz giggerig. In Gedanken kreierte ich einen eigenen «Cocktail». Wobei «Hahnenschweif» – Übersetzung – für ein Getränk doch ein eher seltsamer Begriff ist. Also nichts wie heim und den «Icemintmaison» oder «Kalter Badewasserspass» – ohne Alkohol – runtergestürzt. Ist sicher genau so gut wie «Sex on the Tössuferbeach».

Salzstreuer 34 / 19

 

Regenwurmapokalypse

Munter bohrt und gräbt sich der Regenwurm durchs Erdreich, mümmelt Erdkrumen und vermodertes Pflanzenmaterial in sich rein, geniesst das Leben. Der «rege Wurm» – daher soll sein Name stammen – ist einer aus den 46 Arten, die sich in der Schweiz durch den Boden wühlen. Er hat sich unseren Garten als Bleibe auserwählt. Wir freuen uns, dass er hier lebt, denn der beliebte Gast hinterlässt kalziumhaltige Ausscheidungen. Und diese neutralisieren die säurehaltigen Bodeninhaltsstoffe und verbessern so die Bodenqualität auf natürliche Weise. So quasi ein biologischer Düng-Apparat, der keinen Lärm verursacht.

 

Nicht nur wir, auch andere Gartenmitbewohner – Marder, Igel, Spitzmäuse, Ameisen und Käfer – schätzen den länglichen, braunen Lebensgenossen. Diese allerdings, weil sie ihm das Leben schwer machen, ja es sogar beenden wollen. Weil auch sie Hunger haben und sich nicht mit Erdkrumen und Moder zufriedengeben. Wurmes besondere Feinde sind allerdings zahlreiche Vogelarten. Da stechen besonders die Amseln, alias Merlen hervor. Bei ihnen dient der Bodenbohrer nicht nur als Nahrungsquelle, sondern als Spezialität. Nur ist es so, dass die Begehrten nicht einfach so vor ihrem Schnabel tanzen, sondern sich unter dem Boden tummeln.

Wie kommt also die Merle zu dem Leckerbissen? Sie hüpft über die Wiese, bleibt stehen, hüpft weiter und – zack – zieht sie den Wurm aus dem Boden. Da gibt es Forscher, die behaupten, die Bodenerschütterungen durch den Vogel würden den Wurm aufschrecken.- Auf seiner Flucht käme er aus dem Boden. Andere haben beobachtet, dass die Amsel den Kopf ab und zu schräg hält, so als ob sie die Ohren spitzten und lauschten. Daraus schliessen sie – weil Vögel erwiesenermassen ein ausserordentlich gutes Gehör haben –, dass die Amsel den Bohr-, Kratz- und Fortbewegungslärm hören und genau wissen, wo sie zupicken müssen.

Für unseren Bodengast ist ziemlich egal, welche der wissenschaftlich nicht bewiesenen Theorien zutrifft. Ob gesehen, gehört, gespürt oder aufgescheucht, sein Problem ist, dass er als «Sonntagsbraten» dient und gefressen wird. Glück hat er insofern, dass sein Regenrationsvermögen besonders ausgeprägt ist. Pickt ihm die Amsel nur den hinteren Körperteil ab, wächst dieser fast vollständig wieder nach. Schwein gehabt.

Salzstreuer 33 / 19

 

Veraltet – oder weiss noch jemand, was ein Bandsalat ist?

Kürzlich fand ich beim Aufräumen ein altes SBB-Billett, so eins aus braunem Karton, das der Kondukteur – er trug eine grosse roten Tasche – mit einer schweren Zange gelocht und entwertet hat. Dann erinnerte ich mich, wie mein Grossvater sofort zum Bahnhof eilte, sobald das neue Kursbuch erschienen war. Er studierte es sorgfältig und plante die Ferien. Ich weiss, das ist eine Geschichte aus längst vergangenen Zeiten. Bestätigt wurde mir dies von einem Teenie, der das braune Billett sah und mich fragte, wie man so etwas denn ausdrucke. Da wurde mir bewusst, dass für mich ganz viele Dinge selbstverständlich sind und sind, die der jüngeren Generation nicht mehr bekannt sind.

Bandsalat ist so etwas. Das ist kein Sommeressen mit Öl und Essig. Sondern ein Ärgernis hervorgerufen von einer Musikkassette. Endlich durfte ich von einem Kollegen eine Single – Durchmesser 17.5 cm, 45 Umdrehungen pro Minute – mit dem Recorder aufnehmen. Und dann das! Das dünne Band verhaspelte sich und der damalige Nummer 1 Hit «Das ist die Frage aller Fragen» von Cliff Richard ertönte nicht mehr. Also versuchte ich den Kollegen telefonisch zu erreichen. Ich drehte die Wählscheibe – meine wichtigen Telefonnummern kannte ich selbstverständlich noch auswendig – seine Mutter nahm ab und beschied mir, dass er nicht daheim sei.

Ihm ein Telegramm zu schicken war zu teuer, der Anlass auch zu nichtig. Schliesslich waren Telegramme nur für Hochzeitsgratulationen, runde Geburtstagen ab 60 oder so üblich. Zudem hat das mit dem Telefon ja geklappt, Apparat und Telefonleitung waren in unserer Wohnung. Besser als bei meinen Grosseltern – die teilten eine Leitung mit einem Nachbarn, der etwa 150 m weit weg wohnte. Wenn sie telefonieren wollten mussten sie erst zu ihm. Dafür konnten wir Kinder das Gespräch am Radio mithören – Rediffusion. Meine Grossmutter wurde immer fuchsteufelswild und freuten uns diebisch.

Ich hätte meinem Kollegen auch schreiben können. Das lohnte sich auch nicht. Schreiben von Bewerbungen hingegen schon. Ich kramte meine schönste Handschrift hervor, legte ein liniertes Papier unter das Schreibpapier, zückte meinen Patronenfülli und schrieb die Vorlage, die vorher formuliert hatte ab. Dann wartete ich mehrere Tage, bis wieder ein Brief kam. Inhalt: «Wir bedauern…».

Tja, eine SMS geht schneller. Aber ist sie persönlicher?

Salzstreuer 32 / 19

 

Dichten

Wahrscheinlich jede und jeder war schon mal in der kniffligen Situation, ein Gedicht oder einen Vers zu benötigen. Sei es zu einer Familienfeier, einem Vereinsjubiläum, aus Anteilnahme oder aus Verliebtheit. Dafür gibt es verschiedene Arten das Ziel zu erreichen, also ein Gedicht zu verfassen. Man kann sich auf Berufsdichter wie Goethe, Schiller, oder Gottfried Keller verlassen. Man kann bestehende Lyrik abändern. Etwa: «Drei Wochen war der Frosch so krank! Jetzt raucht er wieder, Gott sei Dank!» von Wilhelm Busch. Statt «Frosch» setzt man einen Namen ein und schon ist das Genesungsgedicht fertig. Ersetzt man noch «raucht» mit «singt, tanzt, schafft, küsst» oder Ähnlichem, entspricht es auch dem Zeitgeist.

Eine weitere Möglichkeit ist, selber ein Gedicht zu verfassen. Dazu brauch mach Reime, so wie «Herz» und «Schmerz» oder «Gaul» und «Maul». Aber was reimt sich auf «Dich»? Da gibt es zum Glück Hilfe im Internet bei einer Reim-Web-Seite. Aber ganz glücklich wurde ich mit dem Angebotenen nicht. Die Vorschläge: «Aalstrich» – was auch immer das ist – «Lattich», «grässlich» oder «Haschmich». Das tönt in meinem Gedicht dann so: «Ich liebe Dich, genauso wie Lattich. Ist das nicht grässlich?» Poesie stelle ich mir irgendwie anders vor. Auch kann ich so natürlich keinen Blumentopf gewinnen, geschweige denn nachhaltig Eindruck schinden.

Und dann gilt da noch Sprachmelodien, Rhythmus und Versmass – Alexandriner, Knittelvers, Jamben, Anapäst, Versfüsse – zu beachten. Bis ich das alles kapiert habe, habe ich schon vergessen, was ich eigentlich dichten wollte. Zudem wird mir vor lauter Begriffen ganz schwindlig. Spätestens jetzt habe ich den Gedanken an den Literatur-Nobelpreis aufgegeben. Kommt dazu, dass unsere gebräuchliche Mitteilungskultur auf dem I- oder Smartphone stattfindet. SMS, WhatsApp und Twitter kaum geeignet ist, kompliziertere Wortgebilde oder gar hochsensible Lyrik zu übermitteln.

Also das mit dem Dichten wird mir etwas zu kompliziert und ich bin zum Schluss gekommen, statt eines eigene Liebesgedichts verschenke ich lieber eine Blumenstrauss oder Pralinen.

Salzstreuer 31 / 19

 

Wenn die holden Winde wehen

Es ist ein delikates, für viele ein unappetitliches, aber natürliches Thema, das mir unter gekommen ist – es geht ums Flatulieren. Sie wissen schon: einen fahren lassen, furzen, pupsen. Es handelt sich um ein Phänomen der Verdauung, im Darm entsteht ein Gemisch verschiedener Gase wie Sauerstoff, Stickstoff, Kohlendioxid, Wasserstoff und Methan. Diese sind geruchlos. Doch dazu kommt 1 % Gase, die stinken – Schwefelwasserstoff, erinnert an faule Eier, Dimethylsulfid, riecht wie gekochter Kohl, und Metylmercaptan, duftet wie faules Gemüse. Übrigens, jede Person hat pro Tag etwa zehn bis zwölf Gasentweichungen – mal laut mal leise – was Ärzte als normal bezeichnen. Aber nicht nur wir Menschen furzen. Tiere sind wahre Meister darin.

Dabei gibt es spannende Aspekte, wie das neue Buch «(p)oops! Erstaunliches zur tierischen Flatulenz» beschreibt. So schlägt etwa die Arizona-Korallenschlange ihre Feinde in die Flucht, indem sie einen kräftigen Knall ertönen lässt, der auch noch stinkt. Das scheint bequemer zu sein, als sich mit den Giftzähnen in das Gegenüber zu verbeissen. Seekühe nutzen die Gase im Darm zum Auftrieb, so können sie ohne Anstrengung an der Oberfläche dümpeln. Elefanten, Nashörner und Pferde sollen arg die Luft verpesten. Das wohl einzige Tier, das sich der Vergasung der Umwelt enthält, ist das Faultier. Es bewegt sich ebenso langsam wie es verdaut. So nimmt es die entstehenden Gase im Blut auf und atmet das Gas schliesslich aus.

Heringe kommunizieren gar mittels Gasabgabe in hohen Frequenzen. Etwas, was einige Menschen auch können. Sie können die Tonhöhe ihrer Abwinde modulieren und ganze Melodien produzieren. Einige haben diese Fähigkeiten kultiviert und zur Vollendung gebracht und sich das Leben als sogenannte «Kunstfurzer» auf Jahrmärkten, Rummelplätzen und im Moulin Rouge verdient. Sie haben sicher gesund gelebt, denn das Unterdrücken der Gase kann zu Blähungen und Schmerzen führen. Die Verdauung ist echt gestört, Abhilfe kann gesunde, ausgewogene Ernährung schaffen. Und sicher kennen Sie das eine oder andere Hausrezept. Also meine Grosstante – sie war für mich als Kind gefühlte 100 Jahre alt – fasste das Thema so zusammen: «Wer gut rülpst und gut forzt, erspart sich Apotheker und Orzt».

Salzstreuer 30 / 19

 

Warten auf die Behandlung

Wartezimmeratmosphäre. Alle starren vor sich hin. Alle sind in ihre Krankheiten und Leiden versunken. Und alle tun sich selber sehr leid. Ich will mich nicht lustig über kranke Menschen machen, ich leide auch vor mich hin, wenn ich zum Arzt muss. Und habe überhaupt kein Gehör für andere Menschen. Kopfweh, Ohrensausen, Husten, Fieber, aufgeschlagene Knie angeschnittene Finger oder Rückenschmerzen isolieren jeden. Qualen haben eine direkte Funktion auf das Mundwerk – sie schalten es auf stumm. Und so ist Stimmung – trotz hellem Licht – in solchen Räumen gedämpft, trist und überhaupt nicht anregend.

Da helfen auch Aquarien oder Terrarien mit dahinflitzenden Fischlein oder träg vor sich hin mampfende Schildkröten nichts. Zwar gut gemeint, aber wenig hilfreich. Genauso wenig tröstlich sind Zeitschriften vom letzte Monat oder alte Zeitungen. Man blättert sie lustlos durch, nichts bleibt hängen, man lässt halt die wertvolle Zeit vorüberrauschen. Bis man aufgerufen wird. Zum Glück gibt es die Smart- und IPhones. Man kann sich bestens dahinter verstecken und vortäuschen, man sei wahnsinnig beschäftigt, während man nur innerlich vor sich hin jammert.

Eine grosse Überraschung erlebte ich bei einem Zahnarzt. Dieses Wartezimmer war freundlich hell, mit einem grossen, frischen Blumenstrauss. Und es lagen gediegene Bildbände auf. Etwa über alte Maharaja-Paläste in Indien, Bilder von Expeditionen in Alaska, the Best of Pressefotografien oder nostalgische Eisenbahnen. Man brauchte nicht zu lesen, man konnte sich mit Bildanschauen begnügen. Für Kinder gab es eine Ecke mit Farbstiften und Zeichenbüchern. Zudem fragte eine Zahnarzthelferin, ob sie Kaffee, Tee oder Wasser servieren dürfe.

Nicht, dass die wartenden Patientinnen und Patienten in Jubel verfielen – Zahnarzt bleibt Zahnarzt und Zahnweh Zahnweh –, doch die Stimmung war merklich gelöster, die Menschen sichtbar entspannter. Das hat mich völlig verblüfft, bis anhin waren Zahnarztbesuche das Schrecklichste, was ich mir vorstellen kann, die dröhnenden Geräusche vom Bohrer im Kopf und das Ohnmachtsgefühl, sich beim aufgesperrtem Maul nicht artikulieren zu können. Jetzt freue ich mich auf die Zahnarzttermine – bis zu dem Moment, wenn ich ins Behandlungszimmer muss.

Salzstreuer 29 / 19

 

Zwischenräume

«Mut zur Lücke» – ein schöner Buchtitel. Nicht? Ich habe ihn im Wartzimmer meines Zahnarztes gesehen, im Buch geblättert und schon war er nicht mehr schön. Es geht um die Geschichte der ausgefallenen Zähne und den Flickmethoden im Lauf der Zeit. Ich hab e das Buch dann weggelegt und hoffte, mein Zahnarzt würde in meinem Mund keine Lücke hinterlassen. Sonst geht es mir im Spiegel wie in dem Gedicht von Morgenstern:
«Es war einmal ein Lattenzaun
mit Zwischenraum, hindurchzuschaun…».

Lücken sind Leerräume und durchaus nicht immer negativ. Es sind jedoch immer Stellen, die in irgendeiner Art gefüllt werden wollen. Zum Beispiel Parklücken. Sie sind – besonders in Städten – oft ein Geschenk für den eiligen Autofahrer. Doch sie zu füllen geht manchmal nicht ohne Blechschaden ab. Und wenn sie gefüllt sind, tickt die Parkuhr und man fühlt, wie das Geld rasend schnell aus der Tasche rollt. Da haben es Lücken im Blumenbeet besser. Sie kann man einfach mit Pflanzen, einer Blume, einem Busch oder Baum, auffüllen. Das braucht zwar eine Zeit bis es angewachsen ist, aber dann ist die Lücke weg.

Etwas problematischer ist es mit Wissenslücken. Besonders bei solchen, die in der Schulzeit vor Urzeiten mal gefüllt gewesen sind und jetzt einfach klaffen, weil das Füllmaterial vergessen gegangen ist. Ich denke da an gewisse Rechenaufgaben oder an den Fremdsprachen Wortschatz. Was ist eine Lücke eigentlich, die einstmals gefüllt gewesen ist? Ist dort nichts mehr oder ist es nur verschüttet? Und ist es noch eine Wissenslücke oder einfach ein Gedächtnisloch? Gibt es einen Unterschied?

Ich denke, dieses Problem müsste ein Philosoph angehen. Als Schreiber weiss ich nur, dass die Lücken in einem Text auch ihr Gutes haben. Denn was nicht geschrieben ist, stösst nicht auf Unverständnis oder Widerstand. Es kann nicht missverstanden werden und auch nicht falsch gelesen. Denn es ist ja eine Leerstelle.

Morgenstern hat sein Gedicht noch weiter geschrieben, er hinterliess keine Lücke:
«Ein Architekt, der dieses sah,
stand eines Abends plötzlich da –
und nahm den Zwischenraum heraus.
Der Zaun indessen stand ganz dumm
mit Latten ohne was herum,
ein Anblick grässlich und gemein.
Drum zog ihn der Senat auch ein.
Der Architekt jedoch entfloh
nach Afri – od – Ameriko».

Da ich keinen Mut zur Lücke habe, beende ich jetzt diese Zeilen. Mit einem Punkt, dass man sieht, dass es fertig ist.

Salzstreuer 28 / 19

 

Flomi

An sonnigen Samstagmorgen bummle ich gerne über einen Flohmarkt. Nicht, dass ich etwas Bestimmtes suche, nein, mich reizen die Stimmung, die Menschen, das Entdecken von Raritäten, das Handeln um den Preis – kurz die einzigartige Atmosphäre. Es ist ein ganz besonderes Völklein, das sich auf einem Flohmarkt trifft. Sowohl bei den Verkaufenden als auch den Interessierten. Da mischen sich Freaks mit Gutsituierten, Sammler auf der Suche nach dem ultimativen Objekt, Händler auf der Suche nach dem günstigsten Schnäppchen, Gelegenheitskäufer, Jugendliche, die ihr Taschengeld aufbessern, Menschen, die plaudern wollen, Müssiggänger und Flaneusen.

Flomi

Das Angebot? Schuhe, Schmuck, Kleider, Schals, Bücher, Spiegel mit Bierreklamen, kitschige Souvenirs aus exotischen Ländern, Geschirr, Gläser, Spiele, Veloglocken, kleine Dosen, Spiegel, Pez-Zeltli-Spender mit Mickey-Mouse-Kopf – ich denke Sie wissen, was sonst noch zu finden ist.

Übrigens seinen Namen soll der «Flohmarkt» von den putzigen Springern erhalten haben, die in den angebotenen Textilien heimisch geworden sind. Die gibt’s noch gratis dazu beim Kauf von Klamotten. Allerdings haben Käuferinnen und Käufer kein Anrecht auf zusätzliche Gratistiere. Wo käme man da auch hin? So könnte beispielsweise ein Flohzirkusbesitzer seine wertvollen Tiere ganz billig erstehen, indem er beispielsweise einen Schal für 50 Rappen kauft, wo die Hüpfer drin sind. Obwohl sie in der Tierhandlung erstens selten und zweitens teurer sind.

Für mich hat das Handeln eine grosse Bedeutung. Es ist ein traditionelles Ritual, das leider in unseren Geschäften, Grossverteilern und Märkten verschwunden ist. Heute gilt immer der angeschriebene Preis. Es ist pragmatisch und fantasielos geworden. Das Spiel entfällt. Ein Beispiel:

Geschätzter Wert CHF 5.
Händler/in)-Angebot CHF 10 (ab jetzt H).
Käufer(in)-Zahlbereitschaft und Angebot (K): CHF 5.
H: Empörtes Kopfschütteln, neues Angebot: CHF 8.
K: Entrüstetes Ausrufen: höchstens CHF6…
Einigung: CHF 7.50.

Und alle haben das Gefühl profitiert zu haben, obwohl alles wissen, dass zu viel bezahlt wurde.

Zu Hause stellt man dann fest, dass der heiss umkämpfte Gegenstand nur rumsteht und Staub ansetzt. Und er wird auf den Flohmarkt gebracht…

Salzstreuer 27 / 19

 

Arbeitskräfte

Die grössten Schwierigkeiten im Arbeitsleben unserer Zeit sind Personalprobleme. Dies habe ich von verschiedenen Seiten gehört. Ich spreche von KMU, die bekanntlich das Rückgrat der Schweiz bilden. Junge Menschen seien zwar gut ausgebildet, doch wenn in der Firma kleinere Problem auftauchen, seien sie schnell überfordert, heisst es Und dann schmeissen sie hin, wechseln die Stelle oder machen eine neue Ausbildung. So richtig ein Ding durchziehen, sei den Wenigsten gegeben. Ob diese Thesen zutreffen oder nicht, mag und kann ich nicht beurteilen, ich bin so quasi eine Firma aus mir allein.

Ich denke es liegt vor allem an Folgendem: wer kann sich heute schon mit «seiner» Firma noch identifizieren? Früher war man stolz, etwa bei «de Sulzere» oder «bim…» – Name zufällig gewählt – «…Müller-Meier» zu schaffen. Aber in der globalisierten Welt weiss man ja nicht mehr, für wen man sich einsetzt, dem Patron ist ein studierten Manager gewichen, dem es egal ist, in welcher Branche er neu strukturiert, Kosten einspart und Gewinne hochschraubt. Und sich für einen anonymen Shareholder abzurackern, der schlicht möglichst viel kassieren will, ist auch nicht gerade befriedigend. So ist der Beruf zum Job verkommen, motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu «Human Resources», zu möglich günstigem, menschlichen Arbeitsmaterial verkommen.

Logisch, sind Feierabend und die Möglichkeit mit Brückentagen möglichst viel Freizeit einzuziehen immer wichtiger. Dagegen lassen sich die Chefs einiges einfallen. Personal muss gepflegt werden, sonst schmeissen sie hin und die Suche nach Ersatz ist teuer und aufwändig. Es gibt Kaffeelounges, Freitags institutionalisierte Wochenendapéros, die Betriebsausflüge führen nach Berlin, Paris, Prag oder sonst wo hin, möglichst exklusiv und weit weg. Die besten Angestellten werden am schwarzen Brett – also über die internen E-Medien – belobigt und andere kreative Ideen umgesetzt. Hauptsache, die Leute bleiben.

Glück hatte eine junge Handwerksfrau, die bei einem Mini-KMU beschäftigt war – der Meister und sie. Ihr Chef hatte auch irgendwo aufgeschnappt, dass man für das Personal innovative Zückerchen verteilen und Anreize schaffen soll. Jetzt ist sie jeden Monat «die Angestellte des Monats».

Salzstreuer 26 / 19

 

Von Wasser- und anderen Fachkenner(innen)

«So geht heute Wasser» – ein Plakat, darauf eine Flasche. Ich habe nicht verstanden, was das soll: «So geht heute Wasser». Der Spruch lässt mich nicht los. Ich grüble und grüble. Dass es nichts mit Bewegung zu tun hat, ist klar, Wasser fliesst und geht nicht. Und sicher, es gibt Salzwasser, Süsswasser, Hahnenwasser, Mineralwasser und … Aber wie Wasser funktioniert, weiss ich nicht. Ich trinke es gern, vor allem direkt aus dem Hahn. Jetzt ist mir ein Zeitungsartikel untergekommen, der mir klar vor Augen geführt hat, welch simpler Banause ich bin.

«Wasser degustieren» war sein Titel. Er beschrieb, dass Wasser nicht gleich Wasser ist, dass je nach Herkunft grosse Unterschiede in Geschmack und Geruch gibt, dass es eine ideale Trinktemperatur gibt, dass je nach Speise eine ganz bestimmte Mineralwassersorte getrunken werden muss. Tönt logisch. Dass man sich alles Know-how aneignen kann, dafür braucht es Schulen. Und wie ich recherchieren konnte, gibt es einige. In der deutschen «Genussschule» bei München beispielsweise kann alles Wissenswerte über Genuss studiert werden. Auch über Wasser. Hat man das Diplom bestanden, ist man Wasser-Sommelier.

Bis jetzt kannte ich nur den Wein-Sommelier in den teuren Lokalen, die ich nur frequentiere, wenn ich eingeladen bin. Dort ist es er Kellner für Getränke. Der Name kommt aus dem Provenzalischen «saumalier», was «Führer der Saumtiere» bedeutet. Dieser war für den Proviant im Haus zuständig. Wein mussten die Maulesel schon bei den Römern in Fässern über die Berge schleppen, damit die Legionäre im kalten Norden etwas zu trinken hatten.

Wenn mit Sommelier die Zuständigkeit etwas Schluckbares auf den Tisch zu bringen, machen ein Wasser- Wein-, Bier- oder Schnapssommelier. Und weil Trinken alleine nicht glücklich macht, braucht man auch noch was zwischen die Zähne. Und so gibt es Käsesommeliers, Brotsommeliers, Fleischsommeliers, Tee- und Kaffeesommeliers. Selbstverständlich ebenfalls die entsprechenden Sommelières. Von Salat- und Kräutersommelièren habe ich nichts gehört und gelesen.

Bin ich jetzt ein Salzsommelier, weil ich den Salzstreuer schreibe? Quasi «So geht Salzstreuer heute»?

Salzstreuer 25 / 19

 

Jodlerfest und Streetparade

Jodlerinnen, Jodler, Alphornmusikanten, Fahnenschwinger – Frauen sind dabei noch rar – und Folkmusikformationen, sie alle treffen sich ab nächsten Freitag in Winterthur. Das traditionelle Brauchtum hat seinen grossen Auftritt. Dafür wurden ein Jodlerdorf, eine Holzbrücke, Festbeizen und Zelte aufgebaut, Kirchen, Schulen und der Hundeclub zu Einsinghallen umfunktioniert und Winterthur Wülflingen zum Festgelände erklärt. Die Voraussetzungen für ein Megafest sind optimal.

«Cool», «Singen statt Drogen», «sexy», sagen junge und ältere Beteiligte. Solche Aussagen und die Tatsache, dass das Schweizer Fernsehen die Liveübertragung von Schwingfesten ausbaut, zeigen, wie schweizerische Kulturgüter einem immer breiter werdenden Publikum wichtig werden. Dass die Besinnung auf Wurzeln und Brauchtum auf im wahrsten Sinn konservative – also bewahrende – Eigenheiten wieder an Boden gewinnen, weckt Hoffnung auf das Abebben der absolut egoistische Phase «Gewinnmaximierung für sich selber». Werte wie Empathie, Verantwortung, gegenüber anderen oder Zusammengehörigkeit und gemeinsames Erleben gewinnen an Raum, machen das Zusammenleben reicher und erfreulicher. Dabei gilt die Verantwortung nicht nur Menschen sondern auch Natur, Tiere, Nahrungsmittel gegenüber.

Auch für verschiedene andere Grossveranstaltungen kann das farbgenfrohe Jodlerfest in der Region ein Vorbild sein. Neben den etwa 4’000 Aktivenerden auch 60’000 Besucherinnen und Besucher erwartet. Krawalle, sexistische Plakate und Petardenangriffe wie anderswo, sind kaum zu erwarten. Denn es ist laut eigener Aussage «ein friedliches Völklein», das da kommt. Wie schon das Sprichwort sagt: «Wo man singt, da lass Dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder».

Dieses bewahrheitet sich auch bei einem anderen Musikfest. Ich meine die Streetparade. Auch sie ist bunt, auch bei ihr treffen sich Menschen zu gemeinsamer Musik. Während die einen zusammen singen, tanzen die anderen zusammen. Und beide zeigen ihre schönsten Kostüme –Trachten oder schrille Outfits. Stimulanzien gibt es auch bei beiden – hie Ecstasy, da Alkohol. Wichtig ist bei beiden: man trifft sich, man freut sich zusammen und man feiert zusammen. Musik verbindet halt.

Salzstreuer 24 / 19

 

Luxus- und Wegwerfgesellschaft

Zugegeben, die drei Stühle entsprachen nicht dem modernsten Design. Es waren einfache, ganze Holzstühle aus – geschätzt – den Sechzigerjahren des letzten Jahrtausends. Und wie damals üblich, waren sie aus harten Holz, stabil gebaut und ohne grosse Kratzer. In der Stadt hätte man sie wahrscheinlich als nostalgische Retrostühle –als Vintagemöbel – verkaufen können. Doch wir wollten sie weggeben, seit unserer Züglete vor einigen Jahren nach Turbenthal hatten wir zu viele Sitzgelegenheiten. Und diese Drei fristeten ein trauriges Dasein, abseits ihrer Bestimmung, im Keller. Einfach so wegschmeissen wollten wir sie aber nicht, sicher kann sie noch jemand gebrauchen.

In der Nähe gibt es eine Stelle, wo man Nichtmehrgewolltes hinbringen kann und diejenige Person, die dafür Verwendung hat, kann dieses einfach mitnehmen. Das ist sehr sinnvoll und genau das Richtige für die Stühle. Doch mir wurde beschieden, sie hätten wenig Platz und – nach Augenschein – sie wollen sie nicht. Platzmangel kann ich verstehen. Also fuhr ich los, in der näheren Umgebung kenne ich ein Brockenhaus mit wohltätigem Zweck. Doch dort sah man sie an wollte sie auch nicht. Das wurde mir mit einem abschätzigen Blick kundgetan. In dem Laden stand eine Tafel: «Entsorgen, 20 Rappen pro Kilo». Also fragte ich, ob ich die Stühle da lassen könne? Doch sie wollten CHF 5 Entsorgungsgebühr pro Stück!

Also transportierte ich die nun weitgereisten Sitzgelegenheiten zur Abfallentsorgung, schweren Herzens und ziemlich enttäuscht, dass solide Handwerksware heutzutage nicht mehr gewollt ist. Plötzlich rief eine junge Frau: «Wänd Si die wegschmeisse? Die sind ja no guet und robuscht. Chann ich die ha?» Ich war sehr erleichtert, dass unsere Sitzmöbel eine sinnvolle Bleibe gefunden hatten.

Was für eine Luxus- und Wegwerfgesellschaft sind wird doch geworden! Wir haben nicht mehr nur die Anzahl Stühle, die wir um Sitzen brauchen, wir haben mehr, quasi zur Auswahl. Und dann sind wir – aus irgendwelchen Gründen – ihrer überdrüssig und wollen sie los sein. Doch selbst soziale Institutionen sind wählerisch geworden und sind nicht mehr auf alles angewiesen. Es wird wirklich Zeit, dass wir uns alle – der Schreibende eingeschlossen – an der Nase nehmen, der Werte besinnen, Kaputtes reparieren und sorgfältiger mit den Gegenständen umgehen, alte Handwerkskunst achten – kurz mehr Achtung vor Ressourcen haben.

Salzstreuer 23 / 19

 

Das Geheimnis der weissen Katze

«Missy» heisst die schwarz-weisse, dicht behaarte Katze unserer Nachbarn. Nicht, dass sie die einzige in der Umgebung wäre, wir sehen rote, dunkelgraue, getigerte und ganz schwarze Tiere, die durch die Gegend streifen, Blumenbeete mit öffentlichen Toiletten verwechseln, manchmal Mäuse und Blindschleichen stolz nach Hause tragen, oder sich schlicht in der Sonne räkeln. Das allerdings sind ganz gewöhnliche Exemplare ihrer Gattung, wie Katzen halt so sind.

Missy ist anders. Sie war ganz klein, als sie die Bühne unserer Wahrnehmung betrat. Herzig, doch wir hatten das Gefühl, dass sie nur Katze spielt und gar nicht weiss, wie Katze wirklich geht. Ich muss das etwas Näher erklären: Missy schlich sich wie eine Erwachsene, geduckt, ganz tief, voller Spannung an ihre Beute und schlug mit der Pranke zu. Aber das Gejagte war keine Maus, kein Frosch, nein, es war ein schlichtes Blatt. Nach dem Zuschlagen hat Missy sich über sich selber erschrocken, fiel um, schaute verdutzt in die Welt und spazierte – wie wenn nichts gewesen wäre – weg. Manchmal lag sie friedlich in der Sonne. Dann flatterte ein Schmetterling in ihre Nähe. Jede andere hätte nach ihm geschlagen und ihn zu fangen versucht. Nicht so unsere süsse Missy – sie ist voller Panik aufgesprungen und in wilder Flucht davon gerast.

Eine Katzenkennerin erklärte uns ihr Verhalten. Sie sei ohne Mutter aufgewachsen, habe für ihr Jagd-, Anschleich- und Zuschlagverhalten nie ein Vorbild gehabt und übe jetzt so, wie sie es halt empfinde. Wir hatten unsere helle Freude an der Kleinen, haben oft laut gelacht, wenn sie wieder, nach Kapriolen durch die Luft, belämmert am Boden in die Welt starrte und zu fragen schien: «Was war jetzt das?» Ihr Lieblingsplatz war vor dem Katzeneingang am Fenster des Nachbarhauses. Dort lag sie meistens. Zufrieden mit sich und der bösen Welt.

Vor kurzem waren wir ein paar Tage unterwegs. Nach unserer Rückkehr erschraken wir sehr – auf Missys Lieblingsplatz fläzte sich eine weisse, fremde Katze. So als ob schon ewig hierher gehöre. Wir rätselten rum, spekulierten und liessen es schliesslich auf sich beruhen. Schade, aber so ist der Lauf der Welt, Altes vergeht, Neues kommt. Bis nach einigen Tagen die Weisse verschwunden war, und Missy ihr gewohntes Leben wieder aufnahm. Jetzt fragen wir uns, ob wir Halluzinationen haben, Missy sich verkleidet hat, oder ob da ein brutaler Verdrängungskrieg stattfindet. Wir beobachten weiter!

Salzsteruer 22 / 19

 

Kofferraum auf Abwegen

Mein Auto hat eine Macke, wahrscheinlich hat jedes Fahrzeug eine solche. Ist sie bekannt, ist der Umgang damit problemlos. Schliesslich ist man flexibel und kann sich anpassen – wenn man weiss wie, funktioniert das Gefährt wie es sollte. Mein Fall liegt etwas komplizierter. Also mein schwarzes Fahrzeug fährt tadellos, Hupe, Bremsen, Scheibenwischer, Licht und Motor – alle geben keinen Anlass zur Klage. Nur der Kofferraumdeckel führt ein Eigenleben. Manchmal will er einfach nicht aufgehen. Dann verschliesse ich das Auto erneut, öffne es wieder, das Ganze noch einmal, und hoffe, dass sich der Deckel erweichen, respektive öffnen lässt. Einige Male klappt’s, manchmal nicht. Also ganz doof ist diese Geschichte, wenn ich zum Bahnhof muss um einen Zug zu erwischen, und den Rollkoffer hinten drin verstauen will.

Bei einem Routineservice habe ich das Problem meinem Garagisten geschildert, selbstverständlich liess sich der Deckel ohne Mühe öffnen. Ich wurde gebeten, das nächste Mal, wenn er sich nicht öffnen lässt, vorbei zu kommen, dann sähe man was es sei. Eines Tages musste ich nach Winterthur, um in einem Gartencenter einen grossen Trog für die Tomaten abzuholen. Zu Hause probierte ich aus, ob die Klappe gnädig sei, sie war es. Kaum war ich auf dem Parkplatz, klemmte sie wieder. Ich konnte durch die beiden hinteren Türen die Sitze runterklappen und den Trog mit Mühe hinein packen – ganz knapp ging es. Dann schnell zur Garage mit meinem Beweis.

Der Garagist kam heraus, liess mich das Auto zwei, drei Mal zu- und aufschliessen, öffnete die Klappe. Es war wie verhext, ich kam mir vor wie der grösste Depp. Es war wie beim Zahnarzt, kaum ist man bei ihm, sind die Zahnschmerzen weg. Ich entschuldigte mich, beharrte aber darauf, dass die Klappe vorher nicht auf zu kriegen war. Da mich der Automechaniker schon länger kennt, glaubte er mir – hoffe ich. Zumindest meinte er in einem väterlichen Ton: «Kommen Sie halt wieder, wenn der Deckel wieder streikt».

Es gäbe einen Ausweg aus der Misere, doch die ist mir zu teuer: Man könnte die ganze Schliesselektronik ausbauen und eine neue einbauen. Die andere Variante wäre, das Auto einzutauschen. Das will ich auch nicht. Jetzt leb ich halt damit. Schliesslich ist es auch spannend: fahren meine Frau und ich zu einem Grosseinkauf, schliessen wir jedesmal eine Wette ab, ob wir den Kofferraum beladen müssen oder alles durch die hinteren Türen im Auto stapeln.

Salzstreuer 21 / 19

 

Lauschangriff der Blumen

Hallo liebe Apfelblüte, ich bin die Biene und bestäube Dich jetzt», soll der Baum in unserem Garten vor kurzem vernommen haben. Er hat es mir allerdings nicht selber erzählt, das wäre zu unwahrscheinlich. Und dass es sich genau so angehört hat, ist ebenfalls zweifelhaft. Doch wie ein deutsches Nachrichtenmagazin berichtet, arbeiten Forscher an einer Studie, die nachweist, dass Schwirrgeräusche von Bienen und Faltern bestimmte Blumen zur Produktion von süsserem Nektar anregen. Sie hatten die Nachtkerzenpflanzenart Oenothera drummondil untersucht und festgestellt, dass sich «die Zuckerkonzentration im Nektar innerhalb von drei Minuten um rund 20 Prozent erhöht» habe.

Flügelschläge erzeugen Schallwellen, die sich in der Luft ausbreiten. «Wir zeigen, dass die Geräusche der fliegenden Bestäuber und künstliche Geräusche mit den gleichen Frequenzen eine Vibration der Bltenblätter und eine schnelle Reaktion auslösen», heisst es in der Studie. Dies deute auf einen plausiblen Mechanismus hin, bei dem die Blüten als Hörsinnesorgane der Pflanzen dienen.

Jetzt wissen wir es also. Selbst wenn wir uns auf dem Balkon oder im Garten unbeobachtet fühlen, müssen wir aufpassen, was wir von uns geben, denn der Löwenzahn, die Rose, ja die Brennnesselblüte hört mit. Und die wären sicher beleidigt, wenn wir schlecht über sie reden würden. Ihre Reaktion ist kaum abzuschätzen, vielleicht würden sie welken, verdorren oder einfach verschwinden. Was im Fall der Brennnessel gar nicht so schlimm wäre. Also lohnt es sich, den Blumen zu schmeicheln, ihnen zu sagen, wie schön sie blühen oder sie zu fragen was sie wünschen. Allerdings ist die Kommunikation einseitig. Sie hören uns, wir können sie aber nicht verstehen. Wir können höchstens interpretieren.

Wenn sie darben, haben wir sicher etwas Falsches erzählt. Es ist gar nicht so einfach, herauszufinden was sie hören wollen. Vielleicht Witze? Oder das Neueste aus der Wissenschaft? Oder Lobgesänge? Es ist wahrscheinlich wie bei den Menschen – alle haben einen eigenen Geschmack. Was tröstlich ist, wenn Sie Blumen in einer Vase auf dem Wohnzimmertisch haben, können Sie miteinander reden, streiten, Liebesschwüre austauschen oder was sie wollen. In spätestens einer Woche sind die Blumen in der Vase verblüht, landen im Kompost und können nichts weiter erzählen.

Salzstreuer 20 /19

 

Käse, Kühe, Küsse

Kennen Sie unser Nationalepos für die Kinder? Sicher. Ich meine «Heidi» von Johanna Spyri. Wunderschön geschrieben, unendlich vielmal nacherzählt, verzeichentrickfilmt, vercomict und verschlagert. Die Handlung ist klar und logisch. Nur in einem Punkt hat sich Frau Spyri nicht festgelegt: Da sitzt Heidi beim Grossvater Alpöhi am Holztisch und er bringt etwas zum Essen – Käse und Brot. So weit so gut. Aber um welchen Käse handelt es sich? Alpkäse, klar, man kann davon ausgehen, dass der Alpöhi eigenen Maienfelder-Alpkäse hingestellt hat. Wahrscheinlich aus Ziegenmilch, denn der Geissenpeter spielt eine wichtige Rolle im Geschehen. Er hütet die Geissen die gemolken werden wollen. Aber auf der Alp könnten ja auch Kühe gelebt haben. Dann fragt sich, welche Kräuter, Blumen und Gräser die gefressen haben. Denn je nachdem muss die Milch anders schmecken. Milch als Rohprodukt für beispielsweise Kräuterkäse.

Das mit dem Käse ist interessant. Denn es gibt so viele Sorten, dass ein Laie sie unmöglich alle kennen und unterscheiden kann, da muss ein Käse-Sommelier helfen. Darüber will ich aber gar nicht schreiben. Szenenwechsel. Wir hatten Besuch aus Glarus. Der brachte uns verschiedene Käsesorten seines Kantons mit: Nidel-Alpchäs, Altknorren, Braunwalder-Alpkäse, Alp-Fessis-Käse und Käse aus dem Durnachtal, um nur einige zu nennen. Um auf Heidis Mahlzeit zurück zu kommen: ich denke, in Graubünden ist es ähnlich. Deswegen ist mir nach wie vor unklar, was sie für einen Käse das Mädchen genossen hat.

Eigentlich ist es ja egal. Hauptsache die Milch stammt von glücklichen Kühen. Ob diese mit oder ohne Hörner glücklicher sind, kann ich nicht beurteilen, da müsste man die Tiere selber fragen. Sicher sehr zufrieden ist die Evolènerkuh, die letzten Monat im Bernischen nach einem Sprung über ein Steinmäuerchen in die Freiheit galoppierte. Seither ist sie verschwunden, obwohl ihr Besitzer mit Nachbarn die Verfolgung aufgenommen, die Polizei, den Wildhüter, die lokale Presse alarmierte und auf Facebook einen Aufruf getätigt hatte. Doch die Kuh wollte sich offensichtlich auf Facebook nicht outen, sie liess nicht mehr das Geringste von sich hören.

Was das alles mit Küssen zu tun hat? Es gibt den Ausdruck: «Auf der Alm, da gibt’s koa Sünd». Und da – denke ich mir – werden Küsse getauscht. Küsse gehören also unabänderlich zu dieser Geschichte. Zudem klingt der Titel so besser.

Salzstreuer 19 / 19

 

Tee – eine unendliche Geschichte

«Die erste Schale Tee, sie netzt mir Kehle und Lippen»
Dies ist die erste Zeile aus einem Gedicht von Lu Tong. Er wurde 798 in China geboren, war Einsiedler, wurde als Teemeister geschätzt und galt als etwas verrückt, weil er sich ganz dem Tee verschrieben hatte.
«Die zweite zerbricht meine Melancholie»
Das Land der Mitte war ursprünglich die Heimat der Teepflanze, erstaunlicherweise kam die erst um 1870 nach Sri Lanka und Indien. Der Schotte James Taylor schmuggelte sie in das Land, wo sie prächtig gediehen.

 

«Die dritte Schale aber sickert mir tief ins Gemüt, das verdorrt von den Worten tausender Bücher war»
Ich war ein klarer Kaffeetrinker, höchstens mal eine Pfefferminz- oder Hagebuttentee wenn’s ganz heiss oder ich krank war. Aber dem schwarzen Zeugs, das meine Grossmutter immer auftischte, konnte ich nichts abgewinnen, viel Zucker und Milch mussten es «trinkbar» machen.
«Die vierte Schale Tee ruft leichtes Schwitzen hervor, befriedet allen Kummer des Lebens und treibt ihn zu den Poren hinaus»
Da wurde ich eines Tages mit einem weissen Tee aus China beschenkt, probierte ihn und fand ihn gar nicht so übel, ja er duftete wunderbar. Ich hatte das Gefühl, dass er anregend wirkte. Dennoch nicht so, wie wenn ich zum Arbeiten an der Tastatur eine Kanne Kaffee leerte. Ich wurde nicht so nervös.
«Die fünfte Schale Tee, sie klärt und reinigt mich durch und durch»
Ich begann mich für das dunkle Getränk zu interessieren und lernte zu meinem Erstaunen, dass Lindenblüten, Pfefferminz oder Salbei in heissem Wasser gezogen, gar kein Tee sind, sondern nur Infusionen. Na ja, aber schmecken tun sie doch, manchmal auch heilen.
«Die sechste Schale macht meinen Geist, den Unsterblichen zum Genossen»
Dann habe ich noch erfahren, dass es nur vier klassische Herstellungsarten gibt: Grüner Tee, Weisser Tee, Oolong und Schwarzer Tee. Und zahlreiche Sortierungen wie Orange, Pekoe, Broken oder Dust, FOP, GFOP etc. Nicht zu zählen sind Aromatisierten Tees, dazu nimmt man Vanille, Rosen, Ingwer oder was auch immer. Nicht zu vergessen die Rauchtees oder die Rösttees.
«Die siebte zu trinken vermag ich nicht. und doch erwachen mir Flügel, sie tragen
mich geläutert im Wind des Lebens»

Jetzt kommen wir zu den Teezeremonien … doch Halt!, Vor lauter Tee raucht mir mein Kopf. Und ganz abheben will ich auch nicht ich nicht – drum mach ich mir jetzt einen Pfefferminz-«Tee». Oder noch besser, einen Espresso.

Salzstreuer 18 / 19

 

Der Geist des Atems

«Muscheltaucher brauchen einen langen Atem» – kürzlich habe ich den Titel in einer Zeitung gelesen. Erst dachte ich mir nichts dabei, der Artikel interessierte mich nicht, ich blätterte weiter. Doch dann stutzte ich, die Zeile liess mich nicht los. Wie lang ist der gebrauchte Atem? Drei Meter, hundert Meter, zwanzig Kilometer? Blöd, das ist doch zeitlich gemeint. Der Weltrekord im Atemanhalten liegt bei 21 Minuten und 33 Sekunden., ein Schweizer hat das im Jahr 2011 geschafft. Doch Muscheltaucher sind keine Weltmeister. Zudem arbeiten sie mit Sauerstoffflaschen, müssen somit selber über keinen ausdauernden Atem verfügen. Hängt die Zeitdauer des Atems mit der Grösse der Lunge zusammen? Wahrscheinlich schon. Diese verarbeitet im Tag etwa 12 km3 Luft – 12’000’000’000’000 Liter –, indem sie rund 20’000 Mal atmet. Ich bin froh, dass dieser Prozess automatisch verläuft, ich würde ihn sicher dann und wann vergessen.

Doch wahrscheinlich ist der zitierte Titel übertragen zu verstehen. Die Taucher müssen Geduld haben, das, bis sie mit ihrem und dem Sauerstoffatem so viele Muscheln gesammelt haben, dass es zum Leben reicht. Wenn die Fanggründe nicht genug hergeben, nützt noch so viel atmen nichts. Ihr Dasein umweht der Hauch von Armut. Aber nicht nur Menschen, Tiere und Pflanzen atmen – bei letzteren nennt man es Fotosynthese – auch guter Wein muss atmen, ehe man ihn trinkt. Und dann ist da noch der Geist der Geschichte der beispielsweise in Rom, Griechenland oder auf den Rütli atmet. Oder es atmet der Geist der Freiheit und im schlimmsten Fall die Situation geradezu nach Vorteilnahme und Bestechlichkeit.

Dazu passt der griechische Ausdruck «Pneuma», der übersetzt Atem, Geist oder Hauch meint. Auch die Seele soll damit gemeint sein. Im alten Ägypten gab es gar die Göttin Selket, «die atmen lässt». Besonders bei giftigen Skorpionstichen soll sie eine heilende Wirkung ausgeübt haben. Klar, beim Yoga und in der indischen Philosophie ist der Atem besonders wichtig – er beruhigt, stärkt das Bewusstsein und ist überhaupt das Zentrum des Menschen. Ein Musiker ohne langen Atem bringt nicht eine getragene Kantilene zustande, speziell ist von Sängerinnen und Sängern die Rede, sie brauchen den langen Atem im wörtlichen Sinne. Der langen Rede kurzer Sinn: der Atem, ob kurz oder lang, gehört jedem Menschen ganz allein. Keiner kann durch die Nase eines anderen atmen.

Salzstreuer 17 /19

 

Gebimmel, Geläut und andere Musik

Es ist idyllisch. Das Gebimmel der Kuhglocken, frühmorgens an einem sonnigen Tag. Dazu das Vogelgezwitscher. Sie können es erleben, wenn Sie in einem Dorf wohnen oder sich in den Ferien auf dem Land tummeln. Falls Sie Strandferien bevorzugen, müssten Sie sich erkundigen, ob dort Seekühe heimisch sind und ob diese allenfalls Glocken tragen. Aber zurück zur ländlichen Wohlfühlwelt. Andere weithörbare Klänge: etwa alle Viertelstunde, morgens um Sechs und am Abend das Geläut einer Kirche. Nun es gibt zunehmend Menschen, die so empfindliche Ohren ihr Eigen nennen, dass sie sich vehement gestört fühlen. Und vor Gericht ziehen. Ob das richtig, falsch, gut oder schlecht ist, kann ich nicht beurteilen. Das müssen Berufenere tun.

Und dann dies – wir müssen hier im stillen Tösstal einer Zeitung aus der lärmigen Stadt Zürich entnehmen, dass die Gemeinde Bauma auf der Gemeindeversammlung zu den Lärmbestimmungen und Ruhezeiten beschlossen hat. Dass «Generell von den Ruhezeiten…ausgenommen sind: a) Das Läuten der Kirchenglocken, b) Das Läuten von Kuhglocken ausserhalb von Wohngebieten und deren näheren Umgebung». Dazu wird der Vizegemeindepräsidenten zitiert: «Das Geläut gehört zu unserer Region und zu unserer Kultur».

Auch die sensibelsten Menschen können diese Klänge vor Gericht nicht anfechten. Nun müssen Juristinnen und Juristen auf die lukrative Einnahmequelle «Lärmklage» verzichten. Als Ersatz können sie es ja noch mit laut spielenden Kindern, den Plopps auf Tennisplätzen oder einem krähenden Hahn versuchen. Oder mit hämmernden Spechten.

In Wald beispielsweise hatten notorisch Gestörte eine Chance. Ein Bauer muss seinem Vieh nachts die Glocken abhängen, wie verschiedentlich berichtet wird. So wie Frauen vor dem zu Bett gehen ihre Perlen und anderen Schmuck ablegen, machen sich die Kühe nackt zur Nachtruhe bereit. Ob sich das auf die Milchproduktion auswirkt, wäre sicher eine wissenschaftliche Untersuchung wert. Ich denke, wer sich gestört fühlt, kann sich mit Kopfhörern schützen. Wenn ich mich so in Strassen und Trams, Zügen und Postautos umsehe, fühlen sich 95% aller Menschen vom Lärm betroffen. Warum wohnen die restlichen 5% offensichtlich in der Nähe einer Kirche, eines Fussballplatzes, eines Kindergartens oder einer Weide?

Selbstverständlich existieren tolerierte Lärmbelästigungen. Ich denke da an die musikalische Berieselung in den Warenhäusern, an Motorradgeknatter, donnernd einfliegende Flugzeuge und frühmorgendliche Pressluftbohrer. Gehören halt zu unserer Region und zu unserer Kultur.

Salzstreuer 16 / 19

 

Frohe Ostern

Der alte Osterhase hat sich endgültig zurückgezogen und das Geschäft dem Nachwuchs überschrieben. Mögen Sie sich erinnern? Vor einem Jahr realisierte er, dass er langsam zu müde war, um effizient die Osternester zu füllen und die bunten Eier zu verteilen. Er verdonnerte die Junghäsinnen und -hasen. Nach anfänglichem «Keine Lust» haben, fingen die Feuer und entwickelten einen riesigen Spass am Job des Zuckereili-Nester-und-gefärbte-Eierersteckens. Allerdings war ihnen die Art des ehrwürdigen Hasen zu altmodisch und zu langsam. Und sie begannen das Geschäft umzukrempeln. Neu war, dass sie die Arbeit aufteilten: es gab Projekthasen, Businesshasen, Marketing-, Presse- und Kommunikationshasen, Produktionshasen, Vertriebs- und Logistikhasen.

Erst gab es einen Workshop, einberufen von den Projekthasen. Darin wurden Ziele, Arbeitsweisen und Mindestmargen definiert. Nach stundenlangen Diskussionen und Kompetenzgerangel stürzten sich danach alle hochmotiviert in ihre zugeteilten Aufgaben. Die Businesshasen verhandelten mit dem Oberhühnerboss über die Eierlieferung. Der stattliche, stolze Hahn war ein zäher Brocken, doch mit der Absatzgarantie konnten die Hasen schliesslich einen guten Preis erwirken. Die Produktionshasen kauften Farben, Schokoladenformen, richteten Ateliers und elektronische Fertigungsstrassen ein, die Vertriebs- und Logistikhasen listeten Adressen von Kindern, Wohnungen und Nestli-versteck-geeigneten Gärten auf und eröffneten attraktive Verkaufsshops. Auch schlug die Stunde der Marketingabteilung. Sie entwarfen Werbekampagnen, schalteten Inserate und reservierten Werbeplätze Print und Online und buchten Sendezeiten in Radio- und TV-Anstalten. Die Onlinegruppe war das grösste Team, schliesslich mussten sie alle neuen Medien – von Facebook über Twitter bis Instagram – bewirtschaften.

Ein grosses Problem war die Verpackung. Denn die grüne Welle hatte auch vor Zuckereili, Marzipanbibeli und Schoggi-Osterhasen nicht Halt gemacht – «No Plastics!». Noch ist das Problem in diesem Jahr zwar ungelöst. Doch eine Projekthasendelegation ist in die indische Hauptstadt New Delhi geflogen. Dort hat die indische Regierung die Nutzung, Verkauf und Herstellung» von Plastiksäcken aller Art erlassen. Man kann gespannt sein, welche Ideen die junge Hasengeneration heimbringen. Bis dahin geniessen Sie die Feiertage – Frohe Ostern.

Salzstreuer 15 / 19

Zur Erinnerung: Osterhasen und anderes Getier (Salstreuer 12 / 18

Der ältere Osterhase bemerkte, dass ihn das Alter so langsam in Beschlag nahm. Nicht schlimm. Erst ein kurzes Ziehen in den Sprungläufen und ein Nachlassen der Augen. Auch seine Löffel schienen nicht mehr alle Geräusche so richtig einzufangen, oft musste er Nachfragen. Dann begann der Korb mit den gefärbten Eiern immer schwerer zu werden. Erst dachte er, dass die Hühner immer dickere Eier in die Färberei lieferten und fand das ein wenig übertrieben. Denn für mehr Schleppen erhielt er nicht mehr Lohn.

Er traf sich mit dem Oberhühnerboss, einem stolzen, stattlichen Hahn. Denn das Federvolk war noch absolut patriarchalisch organisiert, Der Obermacker zeigte sich sehr erstaunt. Er rief seine verantwortliche Oberhenne herbei, krähte sie an und wies sie auf seine erlassene Anordnung hin. Diese besagte, dass die Hühner zur Vorosterzeit kleinere Eier produzieren sollen, um dank weniger Gewicht höhere Margen zu erzielen. Die Oberhenne war empört, hatte sie die Anordnung doch korrekt weitergegeben, ja die Legenden hatten sie derart peinlich verfolgt, dass ihre Hühnereier schon beinahe zu Wachteleiergrösse geschrumpft waren.

Als das der Osterhase hörte, war ihm klar, dass es nicht an der Korbfüllung sondern an seinen altersmässig schwindenden Kräften lag. Er beschloss den Job an den Nagel zu hängen und dem Nachwuchs eine Chance zu geben. Doch die Jungen waren gar nicht begeistert, sie hatten keine Lust mit Eierkörben durch die Gegend zu hoppeln und Osternester zu verstecken. Das ganze Ostergedöns sei ein sinnloses Überbleibsel aus einer antiquierten Welt. Da wurde der ältere Osterhase fuchsteufelswild – obwohl Füchse seine Todfeinde sind. Er stauchte die Jungen brutal zusammen: «Und die grossen, traurigen Kinderaugen, wenn sie nichts finden? Und die armen Eltern, welche die darob quengelnden Kinder beruhigen müssen? Schämt Euch!» Schliesslich hätten sie einen Job und sie sollten die Traditionen hoch halten, auch wenn die Zeiten andres seien. Schliesslich gäbe es keine App, die Osternester verstecke.

Die Junghäsinnen und -hasen wurden ganz bleich und klein mit Hut. Sie sahen aus wie Schneehasen und beschlossen zu zeigen, dass die Jugend gar nicht so schlecht sei, wie der Alte glaube. Sie versteckten die Nester in Windeseile, füllten sie mit Zuckereili und Marzipanbibeli. Kaum waren sie fertig, zückten sie ihre Smartphone, chatteten und twitterten ihre «Heldentat» in alle Welt.

Falls sie, liebe Leserin und Leser, ein Osternestli finden, geniessen sie den Inhalt. Und denken Sie daran, dass die Jungen durch die richtigen Worte zu motivieren sind. Frohe Ostern.

 

Blumenpracht

Vor einigen Wochen liessen wir uns von der Blütenpracht, den Gartenidyllen, den lauschigen Sitzplätzen und beruhigenden Baumlandschaften einlullen. Wir sammelten Ideen, Prospekte und Eindrücke und waren von den wunderbar gestalteten Ausstellungsflächen beeindruckt. Wir besuchten die «Giardina», die Messe für das «Leben im Garten», wie sie sich selber bezeichnet. Die Fülle an Blumen, Sträuchern, Bäumen, Büschen, Teichen, Brunnen, Bänken, Rasenmährobotern und was dergleichen Utensilien für das Wohlfühlen im Freien mehr sind, ist überwältigend

Das Publikum war begeistert, lange Schlangen vor den so genannten Schaugärten bezeugten das. Es wurde hin und her überlegt, die ästhetisch perfekte Pracht im Geist in den eigenen Garten oder auf den eigenen Balkon verpflanzt. Die meist gehörte Phrase während unseres Besuchs waren: «Wenn man nur mehr Geld hätte» und: «Man sollte halt mal im Lotto gewinnen». Und wenn sie es hätten würden sie die Pracht kaufen und nach Hause schaffen lassen. Zum Beispiel ein Feld mit etwa tausend Tulpen, welches wahrhaft bezaubernd aussieht und dessen Anblick ein Glücksgefühl – um nicht zu sagen: einen Glücksrausch – auslöst. Ich komme ins Träumen – wie wäre das in unserem Beet?

Zurück in der Realität, stelle ich mir vor, dass auch diese Tulpen nach spätestens anderthalb Wochen verblüht sind, ihre Stängel sich tanzend verbiegen und die Blütenblätter fallen. Die Vergänglichkeit der Blumen und Blüten wird in der Ausstellung ausgeblendet. Zudem sind die fantastischen Mustergärten weder Wind noch Hagel ausgesetzt, Schnecken, Engerlinge und wurzelfressende Mäuse ist der Zutritt verboten. Auch verwandte Pflanzen wie Unkraut müssen draussen bleiben. Was bleibt ist die Illusion einer prächtig heilen Gartenwelt. Kommt noch dazu, dass sich nur Grossgrundbesitzer einen der vorgestellten Gärten mit einem Teich voller verschiedenfarbigen Kois und blühenden Seerosen, gemütlichen Holzbänken und Marmortisch unter schattenspendenden Laubbäumen leisten können. Neben dem Einrichten ist auch der Unterhalt ist sehr teuer und arbeitsintensiv.

Und so bleibt’s bei dem Genuss der schönen Ausstellung, dem Träumen von ewig blühenden Blumen und arbeitsfreiem Garten geniessen. Jetzt gehe ich jäten und freue mich an den «normalen», unscheinbaren Blümlein, die spriessen.

Salzstreuer 14 / 19

 

Fliegende Velos

Es ist windig und regnerisch. Doch die Velofahrerinnen und ihre männlichen Pendants lassen sich durch solche Kleinigkeiten nicht abschrecken, sie trampen temporeich durch die Strassen. Um wenigstens nicht ganz durchnässt am Arbeitsplatz, in der Schule oder im Einkaufsgeschäft anzukommen, schützen sie sich mit einem Umhang. Das ist so ein Stoff-Plastikgebilde ohne Ärmel und hält wenigstens den Regen von oben ab. Meist ist es gelb oder rot, seltener blau, grün habe ich noch nicht gesehen. Und während die Beine strampeln, fährt der Wind unter diese Pelerinen und bläht sie auf. Das sieht so aus, als würden die Radelnden bald abheben und schweben.

Das wäre eigentlich eine ökologische Variante zum Fliegen. Fast so wie Nils Holgersson auf seiner Gans, Bastian Balthasar Bux aus Michel Endes «Unendliche Geschichte» auf dem Glücksdrachen Fuchfur oder Phileas Fogg Im Ballon, der so eine Etappe seiner Reise um die Welt in 80 Tagen hinter sich brachte. «Fliegende Velos» – die Idee der Zukunft. Sie brauchen keinen Sprit, kein Gas, keine Sonnenenergie. Nur in die Pedale treten müssen die Reisenden. Je nach Kraft, Kondition und Durchhaltewillen lässt sich das Ziel – ferner oder näher – setzen. Ich denke allzu weit weg dürfte dieses nicht sein. Wenn man allerdings dank günstiger Voraussetzungen einen Jetstream erreicht, ist man Ruck-Zuck in den Malediven. Da dort Strandleben angesagt ist, ist auch das Gepäck kein Problem. Eine Badehose passt allemal unter die Pelerine.

Schwieriger wird es allerdings, die Erlaubnis fürs Radfliegen zu erhalten. Denn ich bin überzeugt, auch dafür braucht es ein amtliches Papier, einen Ausweis oder eine Sonderbewilligung. Und die kostet! Denn was in der Schweiz wäre ohne Bürokratismus zu haben. Und wo gibt es bürokratische Handlungen, die gratis sind? Zu den amtlichen Hemmschwellen kommen noch natürliche dazu: man muss auf den Wind warten. Und ob der gerade dann stark genug weht, wenn die Ferien angefangen haben, ist nicht garantiert. Also müsste man riesige Windmaschinen benützen. Aber dann ist ökologische Bilanz wieder im Eimer. Und was ist, wenn es im Sommer heiss ist, so heiss, dass man auf den Veloschutzmantel verzichten muss, weil man sonst vor Schweiss daran klebt und die Beine nicht mehr bewegen kann? Ich merk schon, ausgegoren ist meine Idee nicht. Bleiben wir halt auf dem Boden.

Salzstreuer 13 / 19

 

Das Ende der Illusionen

Meine Mutter hat mir die Geschichte von «Ali Baba und die 40 Räuber» erzählt. Ich –noch sehr klein – fand es aufregend, dass sich die Türe zur Höhle automatisch öffnete, kaum war «Sesam öffne Dich» ausgesprochen. Einige Zeit später kamen in fast jedem Warenhaus Türen auf, die ohne Falle und Schloss aufgingen. Ich glaubte an Zauberkraft, wurde aber aufgeklärt, dass dieses «Wunder» Dank einer Unterbrechung der Lichtschranke funktioniere. Meine Illusion wurde brutal zerstört, das Geheimnisvolle wurde alltäglich und banal.

Mich stört, dass sich alles rational erklären lässt. Das Staunen über unerklärbare Phänomene stirbt, wird ausgerottet. Und damit stirbt ein grosser Teil der Fantasie, die uns in Sphären jenseits des Alltags führt. Ich bin überzeigt, dass Staunen, Träumen und Fantasieren glücklich machen, dass sie Welten eröffnet, die wichtig, ja Lebenselixier sind. Wir leben in einer rationalen Welt, zwischenmenschliche Werte sind den materiellen unterlegen. Ob das gut oder schlecht oder beides ist, mag jeder für sich entscheiden.

Ich persönlich bin immer traurig, wenn meine Märchenbilder und Utopien geklaut werden. Leider geschieht das laufend. Man zeigt mir beispielsweise eine Reportage über das Drehen eines Filmes. Ich erlebe wie eine Sequenz geprobt und in Szene gesetzt wird: drei Leute betreten einen Lift und während des Hochfahrens besprechen sie die ungeheuerlichsten Intrigen. Doch der Lift ist gar kein Lift, es ist einfach eine Box mit einer Tür, hochfahren tut das Ding überhaupt nicht. Oder eine Frau hängt gefährlich über einem tiefen Abgrund, der Held kann sie knapp retten. In Wirklichkeit stützt sie sich an eine Wand, Tiefe und Felsen werden nachträglich per Computer dazu kopiert.

Mir ist klar, dass Filme, Theater, Zaubershows nicht «echt» sind, dass getrickst wird. Aber ich will es nicht wissen, ich will mich unterhalten lassen, will den «thrill» in meinen Adern spüren. Es ödet mich an, wenn ich weiss, wie mich die Macher erwischen. Aber «Making of» und Blicke hinter die Kulissen sind im Trend. Die Welt ist schon desillusionierend genug, lasst mir doch bitte meine Fiktionen, verschont mich mit dem Wissen um die Software, die meine Gefühle evoziert. Lasst mich bei «Ali Baba» wieder über die automatische Tür staunen.

Salzstreuer 12 / 19

 

Frühlingsgefühle

«Im Märzen der Bauer die Rösslein einspannt…» Gilt nicht mehr, eher «Im Märzen der Bauer den Traktor betankt…». Aber darüber will ich nicht schreiben. Sondern über den Frühling, der uns langsam den recht kalten Winter vergessen lässt. Die Sonne scheint länger, die Tage werden heller, die Säfte steigen. Die Blätter schiessen zartgrün aus, die Obstbäume schicken ihre Blüten an die frische Luft. Und die ersten Bienen und Käfer schwirren herum.

À propos Käfer: Pech hatte ein Musiker, der mit seinem Cellokasten ausrutschte – das war natürlich vor dem aufkeimenden Lenz, noch beherrschten Schnee und Eis die Strassen. Wie ein Maienkäfer landete er auf dem Rücken, beziehungsweise dem Cellokasten. Zum Glück sind ihm und dem Instrument nichts passiert. Einzig der Anblick seiner strampelnden Beine und seine mühsamen Versuche wieder auf die Beine zu kommen, wirkten für Umstehende komisch. Laut Volksmund ist ja Schadenfreude die reinste Freude – zwar gemein aber wahr. Doch jetzt haben die weissen Massen ihren Aggregatszustand verändert, gurgeln fröhlich in einem Bächlein helle oder bringen Nahrung für keimende Blumen. Und der Musiker dürfte seine Schreck auch vergessen haben und fröhliche Frühlingsmelodien üben.

Hoffentlich geht es ihm da nicht wie mir. Mir würde vor Frühlingsmüdigkeit der Bogen aus der Hand fallen und die schnarrenden Töne kämen nicht von der tiefsten Saite, sondern von meinem dezenten Schnarchen. Dabei ist es doch schade, die schon wärmende Sonne zu verschlafen, statt sich den Körper mit Vitamin D voll zu pumpen. Doch falls man sich aufraffen kann, lohnen sich Spaziergänge durch die erwachende Natur. Vögel zwitschern wieder, erst zaghaft, dann lauter. Achten Sie darauf, dass Sie immer etwas Geld in der Tasche haben. Denn sollte einer der seltenen Kuckucks rufen und Sie sind blank, verhiesse das nichts Gutes für Ihre finanzielle Zukunft. Sagt zumindest der Aberglaube. Aber so oder so – Frühlingsempfindungen erobern die Welt, geben die Illusion von Allmacht und Unsterblichkeit und fördern das Liebesverlangen. Aber Achtung! Die Folgen von solch überschwänglichen Emotionen könnten sich neun Monate später zeigen.

Sakstreuer 11 / 19

 

«Schaben» und «scheissegal»

«Häsch e Schabe?» Lang, lang ist’s her, seit ich diesen Ausdruck gehört habe. Es muss in der Pubertät gewesen sein. Ich weiss nicht, ob dieser antiquierte Ausdruck für es Schätzli, noch bekannt ist. Und ich weiss ebenfalls nicht, was die aktuellen Ausdrücke Jugendlicher heute sind. Was mich viel mehr fasziniert, ist dass liebevoll oder positiv gedachte Benennungen oft einen negativen Ursprung haben. «Schabe» ist eine Motte und ein Kratzwerkzeug.

Wieso sind positiv gemeinte Beschreibungen und Steigerungen oft negativ besetzt? «Sie ist verdammt schön». «Das Essen ist verflucht gut». «Er ist scheissfreundlich». «Dieser Song ist huere geil». «Der Typ ist blödsinnig intelligent». Sicher können Sie die Liste selber unendlich ergänzen. Ich kann mir zwei mögliche Erklärungen zusammen reimen: Positives wird verstärkt, wenn man ihm Negatives zufügt, denn dadurch kann das Gute über das Schlechte triumphieren. Oder es ist wie bei den Nachrichten – gute sind langweilig, schlechte machen Schlagzeilen. «No News» sind zwar «Good News», doch sie produzieren keine Schlagzeilen. Wer will schon über einen Star lesen: «Er ist glücklich und zufrieden verheiratet». Aber wenn ein Scheidungskrieg droht…

Und so liest man genüsslich, wie sie Promis zerfleischen, fertig machen, sich gegenseitig beschimpfen und schäbig benehmen. Und wieder und wieder tauchen neue Einzelheiten auf. Wenn sich hingegen zwei lieben, kann man höchstens einen Kuss zeigen. Und was ist das schon in der heutigen Zeit? Somit ist klar, dass nur negative Formulierungen und Geschichten interessant sind. Also «Er ist lieblich freundlich» würde sicher niemand sagen. Und so üben wir uns schon von klein auf, die schönen Dinge schlecht zu reden. Und spezialisieren uns darauf, immer etwas Negatives zu finden. «Nichts ist schwerer zu ertragen, als eine Reihe schöner Tage», soll Goethe gesagt haben. So beklagen wir uns in einem schönen, sonnigen Sommer, dass wir den Regen vermissen. Und schifft es was das Zeugs hält, freuen wir uns nicht, dass es genügend Wasser hat. Vielleicht sollten wir merken, dass wir auf hohem Niveau jammern, und dass «Schaben» und ähnliche unpassende Ausdrücke überflüssig sind.

Salzstreuer 10 / 19

 

Kaugummidichte

Sie kennen es sicher, das eklige Gefühl in etwas zu treten und festzustellen, dass es ein frisch ausgespuckter Kaugummi ist. Noch zieht er Fäden zwischen Schuhsohle und Asphalt. Auf ungeteerten Wegen sind sie nicht so schlimm, dort herrscht die andere gruusige Hineintreten-Falle vor. Trotz Robidogs und roter Plastiksäcklein all überall. Aber zurück zu den weissen Flecken, die den Boden zieren. Dazu muss gesagt werden, dass sie eher ein urbanes Problem sind.

Denn sie finden sich meist an Bahnhöfen, Tram- und Bushaltestellen, vor Filialen eines Fastfoodgiganten oder an beliebten Treffpunkten. Die Kaugummidichte gibt Auskunft darüber, wie frequentiert und beliebt besagter Ort ist. Vielleicht sollten zuständige Tourismusverantwortliche dies in ihre Tipps und Stadtpläne aufnehmen. So liesse sich der Jugendtourismus anregen, sie wüssten genau, wo man Gleichgesinnte findet. Und da nicht nur Jugendliche «kätschen», lockte man auch Erwachsene dorthin, was wiederum dem Dialog der Generationen förderlich wäre.

Nun muss ich gestehen, dass die Idee sich mit der Kaugummidichte zu beschäftigen nicht von mir stammt. Mein Kollege Jürg Rohrer, angesehener «Tagesanzeiger»-Journalist, hatte sie vor Jahren. Doch ich finde sie genial, fragte ihn an, ob ich ihn quasi plagiieren darf und danke ihm für seine Erlaubnis. Jetzt hoffe ich, dass ein jüngerer Kollege sie in ein paar Jahren wieder aufgreift und sie der Zukunft erhält. Vorausgesetzt, dass es diese Mund bewegenden Köstlichkeiten dann noch gibt.

Zum Thema. Die plattgetretenen Gummimassen sind heute immer weiss. Rote Sorten wie beispielsweise «Bazooka» sind vom Markt verschwunden. Zudem sind die meisten zuckerfrei. Eigentlich dürften sie dann nicht mehr so am Boden haften, so ohne Zucker. Aber wahrscheinlich habe ich im Chemieunterricht mal nicht so gut aufgepasst und verpasst, dass die Kaugummis nicht des Zuckers wegen kleben. Doch dem Nachzugrübeln, warum sie so haften, interessiert mich nicht. Vielmehr beschäftigt mich die Frage, warum die Industrie es nicht schafft, gut verdauliche Kaugummis zu produzieren, so dass man ohne Magenverstimmungen zu riskieren herunterschlucken kann. Die Folge wären Fleckenfreie Bahnhöfe, Stationen und Trottoirs. Interessierte würden die wichtigen Orte sicher dennoch finden.

Salzstreuer 9 / 19

 

Ich werde gebraucht

Das Telefon klingelt. Doof, ich bin gerade fertig mit Duschen, noch am Abtrocknen, noch nackt. Und hetze mit dem Badetuch um die Hüfte aus dem Badezimmer, nehme ab und höre: «Hallo, sind Sie sicher, dass sie nicht zu viel Krankenkassenprämien bezahlen?» Es ist kalt, doch der Ärger über das Herumgejagt werden, macht mir heiss. Wütend schreie ich die anonyme Stimme an. So irgendetwas von einem englischen Four-letter-word. Ich weiss es nicht mehr so genau, ist vielleicht auch besser so. Aber meine Ruhe, die ich unter der Dusche gewonnen hatte, ist im Eimer. Ich bin genervt und werde unleidlich.

Diese lästigen, unerwünschten, blöden, störenden Anrufe haben Eines gemeinsam – sie kommen zu den unpassendsten Momenten: eben, man ist unter der Dusche, auf dem Klo, in der Badewanne. Oder man ist am Kochen und nach dem unsäglichen Anruf ist alles angebrannt. Oder der Krimi läuft auf seinen Höhepunkt zu – im spannendsten Moment … na Sie wissen schon.

Es gibt eine Stelle beim Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, bei der man in einem Formular die Nummer des Belästigers angeben kann. Das mach ich jedes Mal, dort bin ich Stammkunde. Vielleicht hat es ein bisschen genützt, mir scheint, dass ich weniger angerufen werde. Dafür häufen sich die Belästigungsmails. Von leichtbekleideten Damen mit russischen Namen über Dating-Plattformen in der Schweiz und Österreich, Werkstattwagen, Online-Apotheken, Bürostühle, Kreditangebote, UPS- und FedEx-Ankündigungen bis zu Gewinnankündigungen und Wohltätigkeitsanbieter. Da stand beispielsweise; «Ich möchte eine gute Nachricht mit Ihnen teilen, ich gewann $ 315.3 Millionen…». Und die will dieser Gutmensch teilen und braucht meine Mitarbeit – «…das ist kein Witz und ich brauche dich in deiner 100% Aufrichtigkeit». Bei solchen Angeboten fühle ich mich nicht in meiner Ehrlichkeit geschmeichelt, sondern spediere das Gesülze direkt in einen virtuellen Papierkorb

Ein grosses Glück habe ich – es hat sich noch kein Neffe, Enkel oder sonstiger jüngerer, vor Jahren ausgewanderter Verwandter gemeldet. Ich kann mir allerdings auch nicht vorstellen, dass einer meinen Ahnen ausgewandert ist. Aber wer weiss, wie ich reagieren würde. Allerdings könnte ich ihm kaum Bargeld anbieten, dafür ziemlich viele Bücher. Bei einer allfälligen Übergabe müsste er allerdings mehrere Kisten schleppen.

Salzstreuer 8 / 19

 

Das braune Getränk

Der Krimi war wirklich spannend, locker lesbar. Bis ich plötzlich auf das Wort «Muckefuck» stolperte. Irgendwie kam es mir bekannt vor und schliesslich konnte ich aus einer hinteren Hirnwindung eine Assoziation hervorkramen. Das war doch dieses Kaffeegetränk, das so nüüütelig schmeckt, so lüderig, ein richtiger Blüemlikafi. Oder wie ein alter Onkel zu sagen pflegte: «e Güle». Also Kaffeeersatz. Ich erinnere mich noch genau, bei meiner Grossmutter gab es immer Zichorien in blau-gelb oder orange-weiss gestreiften Papiersäcken. Und einem weissen Porzellanfilter mit Papierfilter. Man musste das heisse Wasser immer auch vorsichtig am Rand fliessen lassen, damit selbst das kleinste Krümelchen Kaffee noch Geschmack abgeben konnte. Heute in Zeiten von Wohlstandsgesellschaft, Kaffeeautomaten, Kapsel- und Kolbenmaschinen ist dies kaum mehr bekannt.

Chicorée- und Löwenzahnwurzeln, Eicheln, Bucheckern – alles wurde geröstet und gemahlen mit siedendem Wasser überbrüht und getrunken. Für diese dunkle Flüssigkeit gab es zahlreiche Bezeichnungen. Neben den schon erwähnte etwa «Plörre» – soll von «Pleur», «Träne» abgeleitet sein – oder «Lorke», was von lateinisch «lora» und althochdeutsch «lura» = Tresterwein stammt. Und dank Wikipedia, unserem so genannt allwissenden Tool, habe ich erfahren, dass «Muckefuck» weder etwas mit Mücken noch einem englischen Derbausdruck zu tun hat. Sondern das französische «Mocca faux» verballhornt, der Ausdruck wurde im Rheinland unter der Besetzung von Napoleon eingedeutscht.

Aber eigentlich ist das gar nicht interessant, jede und jeder will doch einen speziellen Kaffee, einen Latte Macchiato, Cappuccino, Barbagliata, Pharisäer, eine Melange, einen schlichten Ristretto. Oder was der landestypischen Spezialitäten mehr sind. Hauptsache das Getränk weckt den Geist, entspricht dem Zeitgeist und beweist, dass man diesem nachlebt. Kann schon sein, dass sich bald alles ändert. Denn modische Trends sind nicht nur bezüglich Kleider schnelllebig. Und dann trinken wir auch bei uns den bis anhin kaum bekannten Muckefuck. Und Dank der Krimilektüre wissen wir, was das ist. Dass Lesen bildet, wissen wir schon lange, dass Krimilesen auf einen möglichen Trend hinweist, ist mir neu.

Salzstreuer 7 / 19

 

Das Tösstal von oben

Kennen Sie das Tösstal von oben? Ich meine nicht vom Flugzeug aus, auch nicht vom Hörnli oder Schauenberg, so hoch will ich gar nicht hinauf. Ebenfalls geht es nicht um das ganze Tösstal sondern nur von Wila bis Winterthur. Ich habe es entdeckt. Jeweils am morgen und am Abend, seit Dezember letzten Jahres. Sie haben es erraten, ich spreche von der zweistöckigen S11.Ich sitze gerne oben, unten hab ich immer das Gefühl, die Leute tanzen auf meinem Kopf herum. Zudem sehe ich alles aus einem neuen Blickwinkel. Während das Auge früher an einer Lärmschutzwand hängen blieb, kann ich jetzt die Strasse dahinter sehen, das ist spannender. Ich könnte beispielsweise Autos zählen, Automarken oder Farben in eine Beliebtheitsskala einordnen.

Ich erlebe also eine andere Sicht auf beispielsweise Rikon. Bleibt die Frage, ob dies auch mein Empfinden gegenüber Rikon beeinflusst. Wenn ich Dinge von verschiedenen Seiten beleuchte, ändert sich gelegentlich auch meine Meinung darüber. Wie das mit Rikon oder Kollbrunn ist, weiss ich noch nicht. Auf alle Fälle hat die neue S11 unser Essverhalten verändert. Doch um das verständlich zu machen, muss ich ein bisschen ausholen. Bis vor fünf Jahren lebten wir in Zürich Altstetten. Im Quartier gibt es ein sehr gutes Fischgeschäft, mit frischer Ware grosser Auswahl und sehr freundlicher Bedienung. Wir haben oft und gerne dort eingekauft und verschiedenste Rezepte ausprobiert. Hier in Turbenthal vermissen wir diese Auswahl manchmal.

Jetzt haben wir die direkte Verbindung Turbenthal – Altstetten. Und wenn mich eine unbändige Lust auf ein Fischgericht erfasst – kein Problem, die S-Bahn bringt mich direkt nach Altstetten. Dann spaziere ich auf altvertrauten Strassen und sehe, wie schnell sich alles verändert hat. Hier ein Haus abgerissen, dort ein kleines Geschäft geschlossen, ein neuer Discounter mit Parkhaus, ein Wohnblock, wo früher eine Grünfläche war. Doch das Fischgeschäft gibt es immer noch, sogar die Verkäuferin erkennt mich wieder. Und ich freu mich auf ihre Beratung und ihren Tipp für ein mir noch unbekanntes Rezept. Der S11 sei Dank.

Salzstreuer 6 / 19

 

Zeitverlust

Durchsagen: «Wartezeit beim Autoverlad Furka. Zeitverlust 45 Minuten», «Stau auf der A1. Sie verlieren 30 Minuten», «Die S-Bahn hat Verspätung, Zeitverslust ca. 4 Minuten». Ob am Radio oder auf dem Perron, solche Ansagen sind kaum der Rede wert, weil alltäglich und beinahe normal. Doch was heisst «Zeitverlust?» Kann ich Zeit oder gar die Zeit verlieren? Vermisse ich etwas, suche ich ein Fundbüro auf und frage: «Ich habe 30 Minuten Zeit verloren. Wurden sie gefunden und abgegeben?» Ich mag mir die Blicke auf der anderen Schalterseite nicht vorstellen.

Das Meisterwerk des französischen Dichters Marcel Proust heisst «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit». Er beschäftigt sich genau mit dieser Fragestellung und erzählt In dem siebenbändigen Roman seine eigene Geschichte. Dabei deutet er «verlorene Zeit» verschieden: als Zeit, die vergeudet zu sein scheint, als Zeit, die verloren ist, wenn sie nicht in der Erinnerung oder in einem Kunstwerk weiterlebt oder die Zeit als Erinnerung, welche Namen oder Gegenstände hervorrufen.

Also mir sind diese Gedankengänge zu kompliziert. Wenn ich einen Schlüssel verliere, ist klar, dass ich die Tür nicht mehr aufschliessen kann. Er fehlt mir. Ich besuche einen Schlüsseldienst und lasse einen neuen machen. Der Schlüssel ist ersetzbar. Doch welches Geschäft muss ich aufsuchen, um Zeit zu ersetzen? Oder meine verlorenen Nerven, wenn ich mich stark geärgert habe? Oder einzelne Träume, die im Laufe des Lebens abhanden gekommen sind?

Doch besser als über Verluste etwelcher Art auch immer zu schreiben, wie wäre es mit den Gewinnen und Freuden? Da weiss ich allerdings nicht, wo ich anfangen soll, je mehr ich darüber nachdenke, desto zahlreicher tauchen die Dinge, Gefühle, Begebenheiten, Begegnungen auf, die bemerkenswert und erfreulich sind. Ich weiss nicht, wie ich gewichten oder was ich herausstreichen soll. Auch würde die Aufzeichnung den Rahmen eines Salzstreuers sprengen, derart vielfältig sind die positiven Ereignisse.

Jetzt konnte ich den Zeitverlust positiv nutzen, den ich wegen der S-Bahn-Verspätung erlitten hatte – ich schrieb an dieser Kolumne. Habe ich die Zeit wirklich verloren?

Salzstreuer 5 / 19

 

Aufräumen
Es ist schrecklich, auf meinem Pult häufen sich wieder Zettel, Zeitungsausschnitte, To-do-Listen, bezahlte und unbezahlte Rechnungen… Ich muss mir Zeit nehmen, wieder einmal abzulegen, zu sichten, Erledigtes und Unwichtiges zu entsorgen.
Nur noch schnell einen Tee trinken und dann geht’s los. Blöd, wer ruft jetzt an? Muss abnehmen. Und schon ist wieder eine halbe Stunde vergangen. Jetzt piepst auch noch der Geschirrspüler und will ausgeräumt werden. Das mach ich schnell. Jetzt kommt mir in den Sinn, die Wäsche muss ich ja auch noch aufhängen. Also los. Und dieser Staub. Nur kurz saugen. Es ist schrecklich, wie schnell die Zeit rast. Ich muss ja noch den Z’Nacht einkaufen und parat machen. Also gut, aber morgen früh kommt mein Pult dran. «Kannst Du heute mitkommen und mir im Büro helfen?» Klar, das Pult kommt morgen dran. Es ist ja erst Mittwoch.

Schon wieder flattern Rechnungen rein. Bezahlen, lochen, auf den Haufen der abzuheftenden Papiere. Dieser Artikel ist interessant. Könnten mal eine Idee für eine Geschichte werden. Muss ich ausschneiden. Ich hab doch irgendwo ein Mäppchen für solche Zeitungsauschnitte. Ah da. Es wird auch immer dicker. Und schon bin ich am Lesen. Dabei fällt mir ein, dass ich einem Bekannten versprochen habe, etwas über die letzte Theaterpremiere zu schicken. Das mach ich jetzt endlich.

Dann muss ich dringend an die frische Luft, ich kann doch nicht den ganzen Tag am Computer verbringen, wenn draussen die Sonne vorsichtig durch die Wolken blinzelt. Ich muss sowieso zum Bankomat. Das könnte ich mit der Post verbinden. Also fülle ich das längst fällige Formular für die Vollmacht aus. Und wenn ich sowieso dahin muss, schreibe ich doch die Geburtstagszeilen für eine gemeinsame Freundin. Die freut sich sicher, dass wir an sie denken. Gesehen haben wir uns schon lange nicht mehr, entweder hat sie, meine Frau oder ich keine Zeit. Also wenigstens ein paar Zeilen.

Aufgeräumt ist immer noch nicht. Doch ich weiss genau, welcher Zettel unter welchem Haufen wo liegt. Mein Pult ist quasi wie die Handtasche einer Frau – für Aussenstehende ein absolutes Chaos, für sich selber der geordnete Hort der täglichen Wichtigkeiten. Und nächste Woche plane ich es ein. Ich hoffe nur, dass nichts dazwischen kommt.

Salzstreuer 4 / 19

 

Brrrr, saukalt, brrrr
Schnupfen, Husten, Halsweh, typisch, es ist Januar – draussen kalt, drinnen erkältet. Die Jahreszeit ist halt so. Geraffelter Ingwer, Honig, Zitrone, Salbei. Zwiebeln und Bettsocken haben Hochkonjunktur, Ärzte alle Sprechstunden übervoll. Und das nur um ihren Patientinnen und Patienten zu erklären, was diese schon wissen: «Sie sind erkältet. Mit Mittel dauert es eine Woche, oder sieben Tage, bis sie wieder auf dem Damm sind».

Von grossem Pech verfolgt war einer meiner Bekannten. Er ist Single und hatte es nach langem Drängen und geduldig immer wieder Nachfragen endlich geschafft, die Frau, die er schon lange heimlich verehrte zu einem Rendezvous zu überreden. Der Tag des Dates kam näher, doch seine Augen tränten, seine Nase triefte, seine Stimme krächzte, sein Kopf brummte – er musste absagen. Wer ist mit verquollenem Gesicht schon attraktiv und verführerisch? Und weil die Bekanntschaft sowieso eher einseitig und keineswegs konsolidiert war, hatte die Angehimmelte das Gefühl, er habe sie versetzt und somit kein weiteres Interesse an einer Wiederholung.

Was so eine Erkältung und Kälte alles anrichten können. Vom Selbstmitleidanfall über elendiges Dahinvegetieren bis zur verpassten Chance der Familiengründung. Kommt hinzu, dass es am Abend immer noch früh dunkel wird und man sich besser in seine Wohnung verkriecht, statt auszugehen, wo man sich höchstens den Hintern abfriert. «Kalte Füsse sind lästig, besonders die eigenen», hat schon Wilhelm Busch festgestellt. Da kann man nur einen kühlen Kopf bewahren, die kalte Zeitung aus dem Aussenbriefkasten holen und den Sekt kalt stellen, in der – eigentlich sinnlosen – Hoffnung, dass jemand Wärme sucht, der aus der Kälte kommt.

Wenden wir uns also wärmeren Gedanken zu. Der heisse Tee ist geschlürft, die letzten Taschentücher in der Wäsche, die Gummibeine wieder etwas fester. Die Überzeugung, dass es irgendwann wieder wärmere Tage geben könnte, macht sich im tiefsten Inneren bereit. Tröstlich ist zu wissen, dass auch Erkältungen einmal müde werden, dass sich ihr aggressives Angreifen in Erschöpfung ausartet und sie sich von den starken körpereigenen Antikräften besiegen lassen müssen. Und so können wir getrost den Januar Januar, die Kälte Kälte und die Grippe Grippe sein lassen. Der nächste Frühling mit den milden Sonnenstrahlen kommt bestimmt.

Salzstreuer 3 / 19

 

Der Schuh auf der Wiese
Hinter dem Haus liegt eine Wiese. Sie ist leicht steil am Hang, wilde Brombeeren wuchern und haben sich zu einem dichten Gestrüpp formiert. Das Grün. das eher ein Gelb oder Grau ist, wächst unkontrolliert vor sich hin. Das Stück Land dient einigen Kühen als Esstisch, Toilette- und Spazietfeld. Es kann schon mal vorkommen, dass wir in dunkler Nacht nach Hause kommen und in der Dunkelheit grosse Gestalten sehen, die laut hörbar schnaufen. Das erste Mal sind wir erschrocken, bis wir gemerkt haben, dass es die liegenden Tiere sind. In der Dunkelheit sind halt alle Katzen grau. Apropos Katzen, auch die schleichen gerne durchs Gelände, schliesslich ist es die Heimat verschiedener Mäuse, Blindschleichen und sonstigen Lebewesen. Wenn wir durchs Fenster schauen, ist schwer was los.

Doch kürzlich haben wir etwas Neues, noch nie Dagewesenes entdeckt: einen linken Turnschuh. Seither sind wir ganz unruhig. Was hat der Schuh zu bedeuten? Vielleicht will er uns etwas sagen? Wenn ja, was? Unseren Spekulationen sind Tür und Tor geöffnet. Wahrscheinlich hat ihn jemand verloren. Doch das ist unwahrscheinlich, wer humpelt 1. durch diese Wiese und 2. noch dazu mit nur einem Schuh? Die Person muss entweder völlig besoffen oder auf der Flucht gewesen sein. Oder sie hatte derart schmerzende Blasen, dass sie sich einfach vom Schuh getrennt hat.

Vorsichtig haben wir uns das Objekt näher angesehen und waren erleichtert, dass kein abgehackter Fuss drin war. Als TV-Krimi-Seher ist man ja allerlei gewohnt. Auch sonst fand sich nichts in der Umgebung, das auf etwas Schauerliches hätte schliessen lassen – kein blutiges Taschentuch, keine zerfetzten Kleider, nichts. Nur ein linker Schuh. Unsere Fantasie hat sich beruhigt, obwohl der Schuh auch nach etwa zwei Monaten immer noch daliegt. Ich kann ihn nicht holen und entsorgen, schliesslich liegt er auf fremden Grund. Wenn ich ihn wegnehme, könnte man mich des Diebstahls bezichtigen.

Eines Tages hatten wir Besuch. Beim Essen plaudert man ja so dies und das. Auch über den Schuh. Einer unserer Gäste hatte eine plausible Erklärung – ein Fuchs hat ihn irgendwo geklaut und dann aus einem unerfindlichen Grund fallen lassen. Aber jetzt geht das Spekulieren wieder los. Warum hat er ihn fallen lassen? Wer hat ihn erschreckt? Sie begreifen jetzt sicher, ein einzelner Schuh kann uns ganz schön ins Schwitzen bringen.

Salzstreuer 2 / 19

 

Vorsätze und wie man sie umsetzt
Schön, dass Sie auch glücklich im 2019 gelandet sind. Nun sind schon wieder einige Tage verflossen, und ich fürchte, dass auch dieses Jahr mit Windstärke 10 vorüberrauschen wird. Also höchste Zeit, sich über die guten – guten? – Vorsätze anlässlich des Silvesters Gedanken zu machen. Also ich persönlich habe mir nichts vorgenommen, meine Erfahrung hat gezeigt, dass, dass ich ohnehin schwach werde und sie doch nicht einhalte. Mein einziger Vorsatz ist nach wie vor meine Brille vor den Augen.

Aber ich weiss, dass viele Menschen für sich Pläne gefasst haben, dies oder jenes in ihrem Leben zu ändern. Beim Rauchen ist es ja etwas einfacher geworden, statt Glimmstengel, Brissago – gibt es die überhaupt noch? – oder Zigarren, bieten sich E-Zigaretten an. Das kann ja als Vorsatzerfüllung durchaus gelten. Man müsste allerdings den Vorsatz genauer definieren – geht es um das Einatmen von Schadstoffen, das «Parfümieren» der Umgebung oder darum, das Portemonnaie zu schonen? Danach müssten sich die Erfüllungskriterien richten.

«Sitzen ist das neue Rauchen» haben Forscherinnen und Forscher herausgefunden. Das hat sicher auch viele Vorsatzwillige beeinflusst. Dies an elektronische Hilfsmittel auszulagern, wird allerdings schwieriger – es muss schon selber aufgestanden werden. Hilfreich ist ein Stehpult. Doch ob Sitzen eine Sucht ist, weiss ich nicht so recht. Zumindest kenn ich ihre Bezeichnung nicht. Menschen, die zu viel Schnaps, Wein oder Bier trinken, sind Alkoholiker. Aber wie nennt man Zuvielsitzer? Hockliker? Oder Stuhliker?

Im neuen Jahr weniger zu Trinken, ist ebenfalls ein beliebter Vorsatz. Einem Ondit zufolge haben sich Lebensmittelchemiker mit Programmierern verbündet und forschen analog zur E-Zigarette am E-Wein. Wie weit die Bemühungen gediehen sind, ist offen, es wurde Stillschweigen vereinbart. So bin ich auf Spekulationen angewiesen, wie ich mir das vorstelle: Ich sitze vor dem Bildschirm, lade einen virtuellen Korkenzieher, eine Flasche Wein und ein Glas hoch. Jetzt fliesst der schwere Rote ins Glas, ein wunderbarer Anblick. Für die Fortsetzung fehlt mir die Fantasie. Ich öffne mir ganz konkret eine Flasche Wein. Vielleicht bringt der erste reelle Schluck meine Fantasie wieder in Gang.

Salzstreuer 1 / 2019