Menschenverstand und Spaghetti-Zertifikat

guylang —  6. November 2012

Beglückt kam ich vor einigen Tagen aus einem meiner seltenen Kinoabende. Der Film handelte von älteren Menschen in London, die aus irgendwelchen Gründen – Geldmangel, Erinnerungen an die Jugendzeit und ähnliches – ihr Leben verändern mussten. Da kam ihnen ein Prospekt, der eine luxuriöse Altersresidenz in einem prächtigen Palast von Jaipur anpreist, gerade recht. Wie sie ihr neues Leben im indischen Gewimmel einer Grossstadt angehen,

Strassengewimmel okmeistern oder einfach über sich ergehen lassen, ist ein Taumel an Farben, Menschlichkeit und Unerwartetem. Um die Geschichte zu geniessen, sind Indienkenntnisse nicht erforderlich, sie verstärken den Eindruck allerdings, weil Situationen, Begegnungen und Reaktionen gezeigt werden, die alle Indienreisenden so und ähnlich schon erlebt haben.

 

Vor Ofen

ElektrodraehteMir ist dabei aufgefallen, wie viel Kreativität und Flexibilität in unvorhergesehenen Umständen im eigenen Leben frei gesetzt werden und wie viele Lösungen es für Lebensentwürfe gibt. Und wie scheinbar gegensätzliche Kulturen und Gewohnheiten zusammen finden und sich gegenseitig befruchten können. Bei uns verspüre ich immer den Zwang, alles ganz genau zu planen und das Berufs-, Familien- und andere Leben in vorgegebenen Formen zu verbringen. Klappt etwas nicht ganz genau, kommt es zu Problemen, die meist schwer nachvollziehbar sind.

So kenne ich einen liebenswürdigen Menschen, der seine Leidenschaft, nämlich Menschen zu helfen, zu seinem Beruf gemacht hat. Er war äusserst erfolgreich, beliebt bei Schützlingen ebenso wie im Kollegenkreis und stieg selbstverständlich in der Hierarche auf. Eines Tages kündigte er. Seine Begründung: Sein Job bestehe aus Gründen der Zertifizierung jetzt zu 80 Prozent aus Büroarbeit, seine eigentliche Berufung, mit den Menschen zu arbeiten sei zur Marginalie verkommen. Sicher haben auch klare Regeln und Zertifizierungen einen berechtigten Sinn. Doch bei uns werden zwischenmenschliches Verhalten und ungewohnte Lösungen meist der Finanzierbarkeit und dem Gewinndenken der Aktionäre hintangestellt.

Dass Grosseltern einen Berechtigungsschein zur Enkelbetreuung brauchen, ist ja zum Glück vom Tisch. Doch ich warte auf den Tag, an dem ein findiger Beamter den Vorstoss macht, dass ich eine Koch-, Warenkunde- und Gesundheitsprüfung brauche, wenn ich meine Freunde einladen und bekochen will – im Volksmund bekannt als Spaghetti Zertifizierung.

Erschienen in HR Today