Halb statt doppelt

guylang —  9. Oktober 2012

Rasch noch ein Bier trinken vor dem Heimgehen, geschwind noch einen Blick in den «Blick am Abend», ohne Zeitverslust noch was Einkaufen, schleunigst was Essen, das Kino wartet nicht … uff! TulpenstraussSie kennen das sicherlich auch. Unser Leben ohne diese tägliche Eile ist kaum vorstellbar. Entziehen können wir uns dem Geschwindigkeitsrausch kaum. Überall in der Stadt grinsen uns Uhren an, überall sind wir dank I-Phon, Handy und Laptop jederzeit abrufbar – die Devise «time is money» ist in unserer kapitalistischen Welt voll präsent. Beim «Eben-schnell-mal-ein-bisschen-surfen. bin ich auf eine Meldung gestossen, die mich innehalten liess: «Walter Nater starb überraschend nach einer Herzoperation». Irgendwie kam mir der Name bekannt vor, schliesslich erinnerte ich mich. Ziemlich genau vor 17 Jahren habe ich ihn besucht und einen Artikel über ihn verfasst. Er war Drogist. Aber noch viel wichtiger, er war Musiker und war felsenfest davon überzeugt, dass die barocke und frühklassische Musik viel zu schnell gespielt wurde.

«Ein Taliban der Entschleunigung» hat ihn der «Berliner Tagesspiegel» einmal genannt. Denn für Nater – er hatte durch emsiges Forschen in Bibliotheken, Briefen von Mozart und weiteren Komponisten überzeugende Argumente für seine Thesen gefunden – war klar, dass er sich doppelt so viel Zeit für einen Ton , beispielsweise eine Viertelnote, nehmen musste als alle anderen. Üblicherweise stellt man ein Metronom nach den Tempoangaben des Komponisten ein und der Zeiger schlägt hin und her. Tick, Tack, Tick, Tack. Jeder Schlag steht für eine Note. Nicht so für den musikalischen Drogisten. Für ihn galt «Tick,Tack» als ein Schlag, also das Hin und das Her, das ergibt halbes Tempo.

Ich erinnerte mich an mein Interview mit ihm. Er legte mich auf eine Couch, stülpte mir Kopfhörer über und spielte mir eine «normale» Interpretation eines Werkes und dann seine Version vor. Es war verblüffend. Plötzlich überkam mich eine Ruhe, ich erlebte die «langsame» Musik im Einklang mit meinem Atem und dem Puls.  Aber eben, die angenehme Entschleunigung, die nicht nur für die Musik galt, war schnell wieder vergessen. Erst jetzt fiel sie mir wieder ein. Und ich realisierte, dass der seltsame Forscher schon damals voll im Trend lag: Slow Food, Slow Travel, Slow down etc. Jetzt schlürfe ich das Bier wieder langsam, lese die Zeitung ausführlich, geniesse das sorgsam ausgesuchte Essen und verzichte aufs Kino.
Erschienen in HR Today 2012