Die fremden Nachbarn mit der ähnlichen Sprache

guylang —  12. Juni 2012 — Kommentiere

Deutsche und Schweizer Landsleute treffen wegen der Personenfreizügigkeit hierzulande immer häufiger aufeinander – im Beruf und im Alltag. Dass die Verwandtschaft trotz kultureller und sprachlicher Ähnlichkeit doch nicht so eng ist, zeigt die heisse Diskussion, die zurzeit in vielen Schweizer Medien stattfindet.

2007 Deutsche und Schweizer

24 700 Deutsche sind im letzten Jahr (2006) in die Schweiz eingewandert. Das sind insgesamt 4340 mehr als im Vorjahr und 6600 mehr als 2004. Die meisten der im vergangenen Jahr in die Schweiz gezogenen Ausländer und Ausländerinnen haben einen deutschen Pass. Dies meldete die Schweizerische Depeschenagentur (sda) am 12. Februar 2007. «Von den knapp 25 000 neu eingewanderten Deutschen nahmen zwischen 16 000 und 17 000 eine Arbeitsstelle an», sagte Dominique Boillat, Sprecher des Bundesamts für Migration (BFM).
Seit der Inkraftsetzung des Abkommens zum freien Personenverkehr mit der EU per 1. Juni 2002 ist es für EU-Bürger kein Problem mehr, in der Schweiz Arbeit zu finden: im Handwerk, im Gastgewerbe, in Lehrerberufen sowie im Gesundheits- und Versicherungswesen. Besonders zahlreich sind die Deutschen mittlerweile auch in akademischen Kreisen zu finden. So sind knapp die Hälfte aller Dozenten an der Hochschule St. Gallen Deutsche, nämlich 250 von 513 Professoren. Und an der ETH Zürich stammen von 394 Professoren 104 aus dem nördlichen Nachbarland, an der Basler Universität 95 von 151.

In der Bundesverwaltung stammen 2006 von rund 36 000 beschäftigten Personen insgesamt 1739 Mitarbeitende aus der EU: 28 aus Österreich, 85 aus Frankreich, 348 aus Italien, 191 aus den übrigen EU-Staaten und 313 aus Deutschland. «In der Tat gehören die deutschen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger zu jener ausländischen Bevölkerungsgruppe, die am stärksten zugenommen hat, insbesondere im mittleren und höheren Kaderbereich», antwortet Regula Rebecchi, Leiterin Ressort Kommunikation und Personalinformation beim Eidgenössischen Finanzdepartement (EFD) und dem Eidgenössischen Personalamt (EPA), auf Anfrage von HR Today. Die Zunahme seit 2001 beträgt 146 Personen respektive 87,4 Prozent.
In Spitälern sind die Deutschen ebenfalls präsent. Gabriella Urben, HR-Assistentin im Inselspital Bern: «Wir beschäftigen 8987 Menschen aus insgesamt 83 Nationen. 8,3 Prozent stammen aus Deutschland.» Sie erlebt die Deutschen als sehr angenehme Mitarbeitende und stellt keine antideutschen Ressentiments fest, weder seitens Personal noch seitens Patientinnen und Patienten. «Die Insel kann auf eine lange multikulturelle Tradition zurückblicken.»

Nicola Fielder, Leiterin Personal der Klinik Hirslanden in Zürich, sieht allerdings gewisse anti- deutsche Reflexe bei den Mitarbeitenden: «Wenn in der Führung viele Deutsche vertreten sind, kommt gerade bei den deutschen Mitarbeitenden die Angst auf, es würden in Zukunft deutsche Verhältnisse herrschen.» Obwohl verwandt in der Sprache, gibt es kulturelle Unterschiede. «Die Menschen aus Deutschland sind oft forscher, fordernder, aber auch sehr einsatzfreudig und arbeitsam», sagt Nicola Fielder. Zu berücksichtigen sei auch, dass der Auswanderer, der seine Heimat und seine Wurzeln aufgibt, ein besonderer Menschenschlag sei.
Die Gründe für den Entscheid, die Koffer zu packen und in die Schweiz einzureisen, sind vielfältig. Längst nicht alle deutschen Emigranten sind arbeitslos. Gerade unter gut qualifizierten und hoch motivierten Menschen ist jedoch die Meinung weit verbreitet, dass es im Heimatland an beruflichen Perspektiven fehle. Die wirksamste Motivationsspritze für den Aufbruch ins «gelobte Land» ist aber die Aussicht auf das Geld, das sich im Ausland verdienen lässt.

Zwar nimmt das traditionell grosse Lohngefälle zwischen der Schweiz und Deutschland langsam ab – nicht zuletzt eine Folge der verstärkten Einwanderung ausländischer Arbeitnehmender in die Schweiz. Im Durchschnitt verdienten Angestellte in der Schweiz im vergangenen Jahr knapp 63 000 Franken, in Deutschland 58 500 Franken. In einzelnen Sparten sind die Unter- schiede jedoch nach wie vor eklatant. In medizinischen Berufen etwa erhalten Angestellte in der Schweiz durchschnittlich 37 Prozent mehr als in Deutschland, in der Verwaltung sind es 27 Prozent, in der Aus- und Weiterbildung gut 20 Prozent. Ein ordentlicher Professor wiederum verdient an der Uni Zürich zwischen 148 000 und 232 000 Franken, an deutschen Unis erhält er in derselben Position höchstens umgerechnet 95 000 Franken plus Zulagen. Was die Buchhaltungsspezialisten betrifft, so liegt deren Einkommen in Deutschland bei rund 77700 Franken, in der Schweiz jedoch bei 171 900 Franken. Das sind grosse Unterschiede, selbst wenn man berücksichtigt, dass in der Schweiz länger gearbeitet wird, weniger Ferien bezogen werden und die Lebenskosten generell höher sind.
Schweizerinnen und Schweizer werden allmählich gewahr, dass die hiesige multikulturelle Gesellschaft noch bunter geworden ist. Man spricht jetzt auch Deutsch auf den Baustellen, im Operationssaal oder am Schalter, und immer öfter erfolgen die Durchsagen auf den Bahnhöfen oder in Trams in kristallklarem Hoch- deutsch, was den Vorteil hat, dass auch unsereins die Mitteilungen jetzt versteht. Umgekehrt geben sich etliche Zuwanderer aus dem Norden redlich Mühe mit den «Schwiizertütsch» – speziell auf Deutsche zugeschnittene Dialektkurse boomen und sind meist ausgebucht.

Die grosse Mehrheit der deutschen Bürger, die sich hier niedergelassen hat, zeigt den Willen, sich einzuleben und übt sich nicht nur tapfer in der Phonetik, sondern auch im Beherrschen der Kommunikationsrituale, die sich – für viele Einwanderer überraschend – teilweise wesentlich von denjenigen in der Heimat unterscheiden. Diskret, höflich und sparsam: In der Öffentlichkeit wirken Deutsche hierzulande manchmal fast überangepasst. Allerdings sind sprachliche Differenzen nicht zu überhören. So kapierte eine Berlinerin den drohenden Unterton ihres Chefs beim Satz «Wir verstehen uns doch?» erst nach einem aufklärerischen Gespräch mit einer Kollegin. «Bei uns droht der Chef explizit», wunderte sie sich.
Etwas anders erleben manche Schweizer die Einwanderer im Berufsalltag, vor allem dann, wenn ausgeprägtes deutsches Selbstbewusstsein auf den notorischen Schweizer Minderwertigkeitskomplex trifft. Nicht selten punkten deutsche Bewerber mit Eloquenz, forschem Auftreten und formidablen Zertifikaten, können aber die in sie gesetzten Erwartungen danach nicht erfüllen. Augenscheinlich ist dies etwa in der hiesigen Kommunikationsbranche, wo in den vergangenen Jahren immer mal wieder Deutsche «eingekauft» wurden, die es in der eigenen Heimat kaum weit gebracht hätten. Ungern gesehen sind auch jene Berufskollegen aus dem Nachbarland, die bis zur Selbstausbeutung Dumping-Politik betreiben, indem sie etwa renommierten Schweizer Zeitungen das Angebot machen, die ersten paar Beiträge gratis zu liefern.

In der Schweiz dauert es nach einem Vortrag oft eine Weile, bis überhaupt Fragen gestellt werden. Man reisst hier nicht gleich den Arm hoch und stellt möglichst aggressive Fragen, wie das in Deutschland der Fall ist», erzählt Erik Petry, der aus Kassel stammt und zurzeit als Assistent am Institut für Jüdische Studien an der Uni Basel arbeitet. Dass es sich in der Schweiz bezüglich Streit- und Diskussionskultur etwas anders als in Deutschland verhält, sieht man auch eindrücklich bei den Unterschieden in der politischen Kultur – im Vergleich zu den geharnischten Diskussionen im deutschen wirken selbst die heftigsten Debatten im Schweizer Nationalrat geradezu zahm.
Solche Unterschiede zwischen Deutschen und Schweizern beschränken sich aber nicht nur auf die hohen Sphären der Politik und Universität, sondern zeigen sich in den meisten Lebensbereichen. Wohl alle Deutschen, die in die Schweiz gezogen sind, können deshalb von Erlebnissen mit gewissen Schweizer Eigenarten erzählen, über die sie sich gewundert und die – das ist wichtig – sie nicht erwartet haben; ein deutlicher Hinweis dafür, dass viele Deutsche die Schweiz von aussen nicht als ein Land mit einer eigenen Alltagskultur wahrnehmen.

Gerade im Bereich der Geschäftsmentalität zeigen sich Unterschiede deutlich. Christopher Steckel, Münchner und Anwalt bei der KPMG in Zürich, erlebt es als sehr positiv, dass überall die Suche nach Konsens im Vordergrund steht: «So gibt es bei Geschäftsverhandlungen weder reine Gewinner noch reine Verlierer. Am Ende können alle sagen: Das ist ein guter Deal.» Regula Besl, Zuständige für Deutschland bei der Standortmarketing-Organisation Greater Zurich Area AG, fasst es pointiert zusammen: «Die Schweizer sind weniger von einer Einzelkämpfermentalität geprägt.» Im Gegensatz zu Deutschland werde in der Schweiz Wert auf so genannte Coopetition gelegt, das heisst, es wird enger mit eigentlichen Wettbewerbsgegnern zusammengearbeitet als in Deutschland. Christopher Steckel schreibt dies der Kleinheit des Landes und der beschränkten Grösse des Arbeitsmarkts zu. «Hier zieht man einen Geschäftspartner nicht so rasch über den Tisch, weil man weiss, dass man ihn nicht nur einmal im Leben trifft, sondern zehnmal, vielleicht sogar jeden Tag an der Tramhaltestelle. Deshalb geht man miteinander vorsichtiger, respektvoller und nachhaltiger um.»
Da die meisten Deutschen, die für eine gewisse Zeit in der Schweiz leben, allen Ähnlichkeiten zum Trotz überrascht sind, wie unerwartet unterschiedlich die Alltagskultur sein kann, muss man davon ausgehen, dass sie anscheinend nur wenig über die Schweiz wissen. «Es besteht ein massives Informationsdefizit in Deutschland bezüglich der Schweiz», meint Erik Petry. «Die Schweiz ist ein sehr stereotyp besetztes Land, für das man sich im Normalfall nur interessiert, wenn man in den Urlaub fährt.» Das bestätigt auch Christopher Steckel: «Die Schweiz ist für die Deutschen, vor allem für die Kriegsgeneration, ein idealisierter Ort mit fast paradiesischem Charakter – friedlich, geordnet, sauber und diszipliniert. Wer noch keinen Kontakt mit Schweizern hatte, könnte meinen: Na ja, die sprechen ja auch Deutsch, das ist deshalb etwa so, wie wenn ich von Hamburg nach Oberbayern gehe.»

Die Einsicht, dass dem nicht so ist, kommt vor allem mit der Sprachbegegnung. Zum einen müssen sich die Deutschen an die vielen Helvetismen in der Schweizer Schriftsprache gewöhnen. So erstaunt es auch nicht, dass Jens Wiese, IT-Spezialist aus dem Ruhrgebiet, der in Bülach lebt und in Zürich arbeitet, in seinem Weblog (www.blogwiese.ch) den sprachlichen Irritationen viel Raum gibt. Der aus Düsseldorf stammende Kulturwissenschaftler Michael Kühntopf wurde durch seine Übersiedlung ins aargauische Widen sogar dazu inspiriert, ein Sach- und Sprachlexikon über die Schweiz zu schreiben. Welcher Deutsche ahnt beispielsweise, dass es sich bei Finken im Kindergarten nicht um Vögel, sondern um Hausschuhe handelt oder dass die Schweizer den Besen zum Wischen und nicht zum Fegen und Kehren brauchen?
Zum anderen ist das Bild des Schweizerdeutschen stark vom Komiker Emil Steinberger geprägt worden, der zwar mit extrem überhöhtem Akzent auftrat, aber ein durchaus verständliches Hochdeutsch sprach. Wenn die Deutschen aber mit den realen Dialekten konfrontiert wer- den, ist das Staunen gross. Werner Koller, zurzeit Germanistikprofessor an der Universität Bergen in Norwegen, schrieb in seiner sprachsoziologischen Untersuchung über die Deutschen in der Deutschschweiz: «Man macht immer wieder die Erfahrung, dass viele Deutsche (auch Sprachwissenschaftler!) nicht nur schlecht, sondern oft falsch über die Dialekt-Hochsprache-Situation der Deutschschweiz informiert sind.» So müssen viele Deutsche in der Schweiz lernen, dass der Dialekt hier eine andere Stellung geniesst als in Deutschland. Denn für die Deutschschweiz gilt: «Wir sind zweisprachig innerhalb derselben Sprache», wie es der Schriftsteller Hugo Loetscher in einem Artikel über das Verhältnis von Dialekt und Hochsprache in der Schweiz formulierte. Der Dialekt für den mündlichen Sprachgebrauch, das Hochdeutsche für das Schriftliche. Die deutsche Studentin Elisabeth Holdener, die zwei Semester an der Uni Bern studierte, schreibt: «Die Sprache ist, um es gleich zu sagen, die grösste Barriere für den Ausländer – der man hier ist! Man wird immer spüren, dass man nicht dazugehört. Denn Schweizerdeutsch ist kein Dialekt, sondern absolute Umgangs- und Alltagssprache.»

Viele Deutsche erleben es als neu, dass mit dem Dialektgebrauch in der Schweiz keine sozialen Abgrenzungen gemacht werden, wie das in Deutschland oder Österreich oft noch der Fall ist. Dafür dient der Dialekt in der Schweiz der «nationalen» Abgrenzung, denn Deutsche machen immer wieder die irritierende Erfahrung, dass der Dialekt von zentraler Bedeutung ist, um sich ihnen gegenüber abzugrenzen, egal aus welcher Region sie stammen oder welchen Beruf sie ausüben. So erzählt Erik Petry, dass er es zu Beginn seines Aufenthalts in der Schweiz erlebt habe, wie ein Berner seine Fragen an ihn eisern auf Berndeutsch wiederholte, obwohl er hätte merken müssen, dass das deutsche Gegenüber Mühe hatte, Berndeutsch zu verstehen.
Dass zurzeit eine Diskussion über die Deutschen in der Schweiz Wellen schlägt, kann Denise Sonderegger, Marketing Manager Rand- stad Schweiz, nicht verstehen: «Es gibt gute und schlechte Menschen überall. Ich kenne arrogante Schweizer ebenso wie andere. Das ist keine Frage der Nationalität.» Und für Michael Agoras, CEO Adecco Schweiz, ist die Diskussion aufgebauscht: «Seit dem Zweiten Weltkrieg macht das Zusammenspiel der Kulturen die Stärken der Schweiz aus. Das Thema ist eine gute Basis für hitzige Wortwechsel, die nichts bringen.»

Guy A. Lang

Auszug aus HR Today 3/2007

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