Höchstleistungen – zwar nicht quantitativ, dafür qualitativ

guylang —  25. April 2012

Arbeitsplätze für behinderte Menschen – wer denkt da nicht an bedrückende Räume, in denen bedauernswerte Geschöpfe einer mehr oder weniger sinnvollen Tätigkeit nachgehen? Weit gefehlt! Institutionen mit Behindertenprogrammen funktionieren wie «normale» Betriebe, die im Konkurrenzkampf bestehen müssen.

Behinderte – Höchstleistungen

«Besucher haben etwas anderes im Kopf, wenn sie bei uns eine Besichtigung machen», sagt Marcel Fluri, Geschäftsführer bei Espas, einer Stiftung für die wirtschaftliche und soziale Integration nicht voll leistungsfähiger Menschen, beim Gang durch die grosszügigen, hellen Grossraumbüros. Auch Fredy Schär vom Behindertenwerk St. Jakob in Zürich betont, dass es für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den verschiedenen Werkstätten ausserordentlich wichtig sei, dass die Arbeitsplätze sauber sind. Schär: «Unser Clean-Team ist stolz darauf, dass immer alles auf Hochglanz gebracht wird und dass es dadurch den andern Teams die Arbeit erleichtern kann.»
Reinigung gehört zum Tätigkeitsbereich «St.Jakob Dienste», des Weiteren gibt es die Confiserie, den «Beck», die Schreinerei, den Weinbau oder die Creation. «Wir müssen gewinnbringend wirtschaften und bieten Leistungen an, die nicht aus Mitleid bezogen werden, sondern solche, die den Menschen Freude machen», argumentiert Fredy Schär. Er will weg vom «Sozialgejammer», gefragt ist professionelle Arbeit. «Unsere Leute erbringen hohe Leistungen, nicht in Bezug auf Quantität, sondern in Bezug auf Qualität. Denn sie wollen als Erwachsene ernst genommen werden.»

Seit sich die Wirtschaft immer schlankere Strukturen verpasst, um auf dem härter umkämpften Markt zu bestehen, haben schwache Menschen – seien sie psychisch oder physisch behindert – immer weniger Chancen. Fanden sie früher in einem Betrieb zum Beispiel als Postboten noch ein Einkommen, kümmern sich heute verschiedene Institutionen darum, dass sie Arbeit und somit eine Tagesstruktur erhalten. Dass sie dort nicht nur irgendwie beschäftigt werden, sondern in ihrem jeweiligen Rahmen produktiv arbeiten, ist heute eine Selbstverständlichkeit. Denn auch ihre Arbeitgeber können nicht einfach Almosen verteilen, auch sie sind den Zwängen des Marktes unterworfen. Sie müssen Aufträge akquirieren, sie exakt erledigen und fristgemäss liefern. Schär: «Es ist schwierig, neue Kunden zu gewinnen. Und wenn sie nicht zufrieden sind, sind sie schnell wieder weg.» Das bedeutet, dass Mitarbeitende motiviert werden müssen, genau zu arbeiten, was nicht immer einfach ist.

In der Zusammenarbeit mit Behinderten ist es unabdingbar, viel Geduld mitzubringen. Denn Menschen, die nicht ganz so funktionieren, wie andere wollen, können weder erzogen noch gezwungen werden. Bietet sich ihnen jedoch ein gutes Betriebsklima und wird ihr Selbstvertrauen gefördert, werden gute Resultate erreicht. «Arbeit und eine sinnvolle Beschäftigung sind wichtige Faktoren für das Selbstbewusstsein insbesondere für Leute mit einer Behinderung», bestätigt Roland Schläfli, Leiter der Institution Räbhof in Lausen BL. «Wenn Aufträge erledigt werden können, zu denen ein Bezug besteht, ist es besonders ‹erbauend›, sagen zu können: ‹Diese Produkte haben wir gemacht!›.»

Wichtig ist auch, dass man einen normalen Umgang mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern pflegt. Also werden mit allen Arbeitsverträge abgeschlossen. Von den Institutionen werden sie unbedingt eingehalten, die Mitarbeitenden sind dazu nicht immer in der Lage. Sie kommen manchmal zu spät oder gar nicht. «Wir haben normale Kündigungsfristen», stellt Marcel Fluri fest. Allerdings werden sie nicht ganz so rigoros eingesetzt wie im Markt. Weil bei Espas 80 Prozent der Personen psychisch behindert sind – mit schleichenden Depressionen, Alkoholproblemen usw. – wird mit den Betroffenen bei Unregelmässigkeiten ein Gespräch geführt, in dem die Wahrnehmungen mitgeteilt werden. Schuldzuweisungen oder Zwänge gibt es nicht. Auch wird ihnen angedeutet, dass sie wieder- kommen können, wenn sie wollen. Die Toleranz- grenze, bis eine endgültige Kündigung ausgesprochen wird, liegt bei etwa drei Monaten.
Das Wiederauftauchen in einem Team stellt kein Problem dar, schliesslich wissen alle aus eigener Erfahrung um ihre Schwächen. Wesentlich für alle Menschen ist, dass sie in einem sozialen Rahmen leben und arbeiten können, dass sie einen Austausch zu anderen Personen haben. Die Gefahr der Vereinsamung ist bei behinderten Menschen gross, besonders bei psychisch Kranken. Tagesstrukturen und die Zusammenarbeit im Team sind daher wichtig.

Der Umgang mit Anwesenheitsproblemen verläuft bei St. Jakob in etwa gleich. Wenn das Zuspätkommen oder das «Halt-einfach-Fehlen» übertrieben wird, setzt sich der Abteilungsleiter mit allen Betroffenen zusammen und sucht eine Lösung. Denn der Zeitdruck für angenommene Aufgaben ist enorm. Zwar sind die jeweiligen Teamgrössen darauf ausgerichtet, Abwesenheiten auffangen zu können. Falls die Zeit trotzdem knapp wird, kann die Arbeit von Personen aus anderen Abteilungen abgedeckt werden, dies auf freiwilliger Basis. Und wenn gar nichts mehr geht, muss das Leitungsteam einspringen und den Auftrag zu Ende bringen. «Wichtig ist, dass die Abteilungsleiter die Stärken und Schwächen ihrer Mitarbeitenden kennen und somit wissen, was zumutbar ist», so Fluri. Entsprechend werden Aufträge angenommen und die Arbeit verteilt. Fredy Schär: «Unser Erfolg beruht darauf, dass wir flexibel sind und Aufträge schnell umsetzen.» Denn eine Chance kommt nur einmal. Und so reagierte er sofort, als kurzfristig für den Besuch des Dalai Lama im Zürcher Hallenstadion 10 000 Kissen geordert wurden.
Die Mitarbeitenden sind oft sehr traurig, wenn sie keine Aufträge oder Arbeit haben. Beim Räbhof erlebte eine Auftraggeberin, dass die einzelnen Leute zu ihr kamen und ihr die Hand schüttelten: «Danke, dass du uns Arbeit bringst.» Auch Marcel Fluri berichtet, dass die Leute mit ihrem Auftraggeber eine grosse Identifikation eingehen. «Sie sind dann das ‹XY-Team› und tragen Baseballmützen mit dem entsprechenden Logo.»

Die meisten Mitarbeitenden in den Institutionen beziehen eine IV-Rente. Für ihre Arbeit erhalten sie einen zusätzlichen Lohn, der vertraglich festgelegt wird und ihren Leistungen angepasst ist. Bei St. Jakob erhalten sie eine Ergänzung zwischen 0 und 50 Prozent eines normalen Arbeitnehmenden. Bewirbt sich jemand um einen Platz, wird dieser Person zunächst der ganze Betrieb gezeigt und sie kann den Wunsch äussern, wo sie arbeiten möchte. Selbstverständlich gibt es gewisse Voraussetzungen: In der Schreinerei müssen Sicherheitsvorschriften ein- gehalten werden, in der Bäckerei sind Hygiene und Zuverlässigkeit unabdingbar. Dann erhält die «eingestellte» Person zunächst einen fest- gelegten Betrag, nach etwa zwei Wochen wird der endgültige Lohn festgelegt.

Die Einstellung bei Espas verläuft ähnlich. Zunächst wird 14 Tage geschnuppert, dann ein auf drei Monate befristeter Vertrag ausgearbeitet, der dann in einen unbefristeten umgewandelt werden kann. Bei den Verträgen gilt das Normalitätsprinzip – normale Kündigungsfristen und Arbeitgeberleistungen. Einmal im Jahr werden Mitarbeitergespräche geführt – sie laufen im üblichen Rahmen ab –, Förderungen und Qualifikationen finden statt. Besteht eine Vakanz, kann sich jeder für diese Stelle innerhalb von Espas bewerben, ist er qualifiziert, wechselt er den Job. Aus- und Weiterbildungen werden an- geboten, denn das Ziel von Espas ist, Leute durch Jobtrainings, kaufmännische und IT- Lehren wieder in den normalen Arbeitsprozess zu integrieren. Der Räbhof bietet zwar keine eigene Weiterbildung für Mitarbeitende mit einer Behinderung, die meisten besuchen jedoch auswärtige Kurse. Zudem erhalten sie bei Aus- tritt ein Arbeitszeugnis.

Ein besonders eindrückliches Beispiel für die Möglichkeiten, die sich innerhalb einer solchen Institution für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bieten, weiss Fredy Schär. Eines Tages kam eine junge Frau zu St. Jakob, die sich in einem sehr schlechten Zustand befand. Sie wurde in die Ausrüstabteilung eingeteilt. Dort wird eingepackt und konfektioniert. So gewann sie etwas Boden unter den Füssen und äusserte eines Tages den Wunsch, im Verkauf der Bäckerei zu arbeiten. Zwar bestanden grosse Bedenken, man schenkte ihr jedoch das Vertrauen. Sie blühte auf und war entschlossen, eine Verkaufslehre zu absolvieren. Auch dabei erhielt sie, wenn auch zögerlich, Unterstützung. Schliesslich, am 8. Juli 2004, erhielt die behinderte Frau das eidgenössische Abschlussdiplom als Bäckerei- und Konditoreiverkäuferin mit der Bestnote 5,9 ihres Prüfungsjahrgangs im Kanton Zürich.
Solche Beispiele sind die beste Reklame für ein Unternehmen. Sowohl bei Espas wie beim Behindertenwerk St. Jakob ist der Elan des Leitungsteams unerlässlich, um eine erfolgreichen Betrieb zu garantieren. Marcel Fluri und Fredy Schär sind unermüdlich darin, neue Ideen zu entwickeln, weitere Arbeitsmöglichkeiten zu generieren und mit ihren «Firmen» zu wachsen. Beide liefern mit ihren Teams Qualität zu Marktpreisen, beide strotzen vor Visionen.

Besonders stolz ist Fredy Schär auf seinen Chor des Behindertenwerks St. Jakob, den er 1992 gründete. Ursprünglich war eine Mitgliedschaft für alle obligatorisch, heute nur noch für das leitende Personal. Die Beschäftigung mit Musik fördert die Sozialkompetenz und verstärkt das Selbstwertgefühl. «Die Leute strahlen, wenn sie nach einem Konzert Standing Ovations erhalten, sie, die sonst immer etwas belächelt werden», sagt Schär. Nach anfänglich kleinen Konzerten in Altersheimen wurde der Chor von der Öffentlichkeit in immer grösserem Rahmen wahrgenommen und akzeptiert. So musste das Weihnachtskonzert im Grossmünster von Zürich wiederholt werden. Und am 14. Oktober 2006 wird Mozarts «Requiem» aufgeführt – im KKL Luzern.

Fazit: Beim Verfassen dieses Artikels ertappte ich mich dabei, dass ich behinderte Menschen als «bedauernswerte Geschöpfe» im Kopf hatte. Ich musste mir immer wieder bewusst machen, dass Menschen mit einer Krankheit einfach wollen, dass sie ernst genommen werden und dass ihr Arbeitsleben normal verläuft. Jeder Arbeitgeber und jeder Unternehmer hat schliesslich gewisse Probleme mit den Mitarbeitenden, seien es Pünktlichkeit, Motivation, Terminkollisionen oder andere – wenn auch nicht im geschilderten Rahmen.

Auszug aus HR Today 10/2006