Textiler im Tösstal IV – Samuel Scheidegger, Betriebsleiter Spinnerei

guylang —  17. August 2014 — Kommentiere

Welterfahren, fachkompetent und korrekt
Ägypten, Italien, Vogesen, Deutschland, Skandinavien, Kanada, Amerika – ehe Samuel Scheidegger (*1935) bei Boller Winkler die Spinnerei als Betriebsleiter übernahm, sammelte er jahrelang internationale Erfahrungen als Monteur. Gelernt hat er Maschinenschlosser beim damals führenden Spinnereimaschinenhersteller Rieter.

 

Scheidegger

© Guy Lang

«Eigentlich hätte ich gerne Maurer gelernt», erinnert sich Samuel Scheidegger, «aber ich war zu zart, zu klein, zu fein». Also hat er vier Jahre gefeilt und gebohrt. «Ich komme aus einer Gegend, wo Maschinenschlosser in einer Weltfirma etwas gegolten hat. Genau das habe ich angestrebt». Spinnereimaschinen wurden zu seiner Spezialität. Er war als Repräsentant von Rieter für neun bis zehn Jahre auf Montage in aller Herren Länder, allein zwei Jahre in den USA. Zurückgekommen, entschloss sich Scheidegger, noch die Schule für Textilingenieure im deutschen Reutlingen zu absolvieren.
Ein Inserat in der «NZZ» machte ihn auf die Stelle als Obermeister in der Spinnerei von Boller Winkler in Turbenthal aufmerksam, er bewarb sich und wurde angestellt. Nach dem frühen Tod seines Vorgängers übernahm er das Amt. Damals war die Hierarchie noch streng geregelt: Besitzer, Betriebsleiter, Meister, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Scheidegger: «Mein Arbeitgeber war stets korrekt. Man konnte darauf zählen, dass er alle gleich behandelte, Bevorzugte gab es keine». Das war ebenfalls Scheideggers Devise. Er erwartete von «seiner»  Belegschaft – etwa 50 Personen –, dass sie die zugeteilte Arbeit korrekt nach Vorschrift ausübten. «Wir hatten vorzügliche Leute, sie wussten, was sie zu tun hatten».

Vom Rohstoff zum Garn
Die Spinnerei steht am Anfang der textilen Wertschöpfungskette. Aus landwirtschaftlichen Rohstoffen – Baumwolle, Flachs, Leinen, Seide und anderen Materialien – wird mit dem Faden ein Zwischenprodukt hergestellt, das an die Weberei weitergegeben wird.
In der Öffnerei wird die in Ballen gepresste Baumwolle zu Flocken aufgelöst. Anschliessend werden die Flocken von der Karde zu Einzelfasern verarbeitet –Staub und Kurzfasern ausgeschieden – und zu einem losen Band gebracht. Durch Streck-/Verzug-Prozesse werden sie parallelisiert, und auf der Vorspinnmaschine entsteht das erste Garn, ein leicht gedrehtes Vorgarn. Auf der Ringspinnmaschine wird dieses verfeinert und mit Hilfe der drehenden Spindel verfestigt. Auf die Frage, ob dann «Knäuel» entstehen, reagierte Scheidegger unwirsch: «Knäuel sind ganz durcheinander aufgewickelt!». Das Garn wird direkt von einer der etwa 14’000 Spindeln, die bei Boller Winkler im Einsatz waren, ganz exakt zu Garncops aufgewunden. Je nach Anzahl der Fasern, die zusammen gedreht werden, ergibt sich die Dicke des Rohgarns.
Die Baumwolle – in der Schweiz wurde ausschliesslich solche versponnen – stammte je nach Marktlage, Preis und Qualität aus verschiedenen Ländern, oft aus Amerika.

Das Ende der Spinnerei
Eine anspruchsvolle Aufgabe war das Leiten des Personals. Die Menschen kamen aus verschiedensten Ländern – neben Schweizern erst aus Nord-, dann aus Süditalien, Spanien, Portugal, der Türkei und aus dem Tibet. Oft herrschten bezüglich des Verhältnisses von Arbeitsleistung und Lohn verschiedene Auffassungen. «Es war meine Aufgabe, die Vorgaben von oben umzusetzen. Das ist mir gut gelungen», sagt Scheidegger, «wir hatten kaum Personalfluktuationen».
Doch mit der Zeit wurde die Situation immer schwieriger. Reklamationen, die nur dazu dienten, die Preise zu drücken, nahmen zu, Kunden kauften nur noch Muster und liessen billiger im Ausland produzieren, Arbeitskräfte in Asien oder anderen Weltgegenden mussten mit wenig Verdienst zufrieden sein. Scheidegger: «Wir wurden zu teuer. Ich musste immer mehr Leute entlassen.» Kurz vor der Pensionierung traf es ihn selber, die Spinnerei wurde bald darauf geschlossen.

Moderner Grossbetrieb beschliesst Karriere
Nach seiner Zeit in Turbenthal wechselte Samuel Scheidegger für 1 ½ Jahre an die Textilfachhochschule in Wattwil, war zuständig für Weiterbildungskurse von Erwachsenen. «Allerdings waren die meisten schlecht motiviert, es war absehbar, dass die Textilindustrie kaum mehr Perspektiven bietet». So kam die unerwartete Anfrage einer Hamburger Firma, ob er in der syrischen Hafenstadt Latakia eine Spinnerei beraten und begleiten wolle, gerade recht. «Es war ein technologisch moderner Grossbetrieb. Statt der 14’000 Spindeln wie bei Boller Winkler, liefen 126’000». Und alle vier Wochen konnte er für 10 Tage nach Hause. Der Kreis hatte sich geschlossen: Scheideggers Berufsleben begann und endete im Ausland. «S’isch e gueti Ziit gsii und ich ha ganz feini Mensche känne glert».

Erschienen in «Der Tößthaler», August 2014

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