Arbeiter und Patron – wiedererstandene Weberei von 1914

guylang —  2. Juni 2014 — Kommentiere

 

© SRF, Oscar Alessio

Dreharbeiten für das Schweizer Fernsehen SRF in Juckern

«anno 1914 – Leben wie vor 100 Jahren» – nach Gotthelfs Saleweidli und den Pfahlbauern von Pfyn befasst sich SRF im diesjährigen Themenschwerpunkt des Sommers mit dem Alltag im Tösstal vor 100 Jahren. Im Mittelpunkt stehen eine Fabrikantenfamilie und Arbeiter in der Weberei, Lebensumstände an die sich sicher noch viele erinnern. Um authentisch zu sein wurde die ehemalige Weberei in Juckern wieder in Betrieb genommen und die Darstellerinnen und Darsteller schlüpften für zwei Wochen aus dem Jahr 2014 ins Jahr 1914.

Vor dem Gasthof «z. Löwen» in Juckern wimmelt es von Menschen. Die Szenerie wirkt seltsam, ein Mix aus Schauspielerinnen und Schauspielern in Kostümen von 1914 und TV-Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Jeans und T-Shirts.
«Ich zähle von Drei an rückwärts, bei Null klatscht Ihr laut!» – die Ansage durchs Megaphon an die Statistinnen und Statisten ist klar. Der Applaus gilt der Truppe eines kleinen Wanderzirkus. Sie haben mit Seilen einen Spielplatz abgetrennt und unterhalten die Dorfgemeinschaft mit ihren Kunststücken. Alle sind sie versammelt, auch der Patron und seine Familie haben sich schön gemacht und mischen sich unters Publikum.
Der heutige Hydrant und der gelbe Briefkasten sind mit künstlichen, grünen Blättern abgedeckt, schliesslich soll nur ins Bild, was es 1914 schon gegeben hat. «Stopp! Den Auftritt der Fabrikantenfamilie wiederholen wir. Bitte nochmals in Startposition». Es ist klar, die Dreharbeiten für die «Scripted Living History» – eine Geschichte mit einem Minimaldrehbuch – laufen auf Hochtouren, de Produktion muss fertig gestellt werden.

Urgrossvaters Erzählungen werden lebendig
Reto Holzgang ist Redaktor und Produzent bei «Schweiz aktuell»: «Es war eine spannende Zeit, wenn man nur an die aufkommende Elektrifizierung denkt, welche die Industrie völlig verändert hat». Das Thema interessiert die Menschen, noch ist es nicht so lange her, einige haben noch selber in Webereien gearbeitet und die Klassenunterschiede erlebt. So war das Interesse mit einer Rolle dabei zu sein sehr gross. «Knapp 800 Leute haben sich beworben. Und wir brauchten um die 20», so Holzgang.
Das wichtigste Kriterium für die Auswahl: warum die Menschen unbedingt mitmachen wollten. Holzgang: «Wir wollten niemanden, der einfach nur ins Fernsehen kommen wollte, die Bewerber mussten eine eigene, starke Motivation mitbringen». So lebt beispielsweise die Arbeiterfamilie Büchi-Lüscher – der Vater ist im «richtigen» Leben Schreiner, die Mutter Waldkindergärtnerin – in einer ehemaligen Weberei in Wila. Oder: die 14-jährige Lisa-Maria D’Ercole, die das Dienstmädchen spielt, war völlig fasziniert von den Erzählungen ihres Urgrossvaters aus jener Zeit, sie wollte das Gefühl unbedingt erleben.
Das ganze Tösstal war voller Webereien, Juckern als Drehort jedoch ideal. «Wir haben überall gesucht,» sagt Holzgang, «aber nirgends passte die Konstellation so wunderbar zusammen wie hier». Da ist die Villa des reichen Fabrikanten, das Fabrikgebäude mit Näherei und Weberei, das «Gasthaus z. Löwen», das sich kaum verändert hat, sowie das Kosthaus, wo die Arbeiterfamilie wohnte. Hans-Felix Jucker, der ehemalige Fabrikbesitzer, stellte die Gebäude, sein Elternhaus und sein Wissen für das Projekt von SRF zur Verfügung. Er hat die Geschichte der Weberei Grünthal in den zwei Bänden «Das Rad der Zeit» dokumentiert.

© SRF, Christian Lanz

© SRF, Christian Lanz

Arbeiterwohnung und Fabrikantenvilla
Die heutigen Bewohner im so genannten Kosthaus wurden für zwei Monate ausquartiert und das Haus in den Originalzustand von 1914 zurückgesetzt. Eine schlichte Stube, eine Küche und zwei Schlafzimmer im 1. Stock. Die Lüschers haben zwei Wochen dort gelebt wie damals – ohne die Errungenschaften der heutigen Zeit. Im eigens eingerichteten Lädeli im Gasthaus konnten sie mit dem verdienten Lohn einkaufen, auf dem Holzherd wurde gekocht, warmes Wasser gab es nicht, dafür schon elektrischen Strom, geliefert von den Turbinen des Patrons. Das einfache Leben war hart.
Reichtum und Prunk finden sich hingegen in der Fabrikantenvilla. Die Stube ist holzgetäfert, der Parkettboden glänzend poliert, ein Kristallleuchter strahlt Selbstverständlich serviert das Dienstmädchen im schwarzen Kleid, weisser Schürze und weissem Häubchen. Auch ein Wandtelefon hängt im Gang und im Büro des Patrons quillt der Aschenbecher über mit Zigarrenresten. In der Waschküche steht der grosse Kupferkessel, Wäscheseile, wie man sie noch in alten Häusern findet und im Bügelzimmer ist die Tapete aus Stoff. Auf Detailtreue wurde äusserst viel Wert gelegt.

Produktion von Küchentüchern
In der Fabrik standen sechs Webmaschinen, drei davon konnten die ehemaligen Textiltechniker Adriano Geiger und Hans Ineichen wieder in Gang bringen, drei weitere wurden aus der Webereimaschinen-Sammlung Neuthal gebracht und installiert. Für Laien erklärt Ineichen, dass es «Oberschläger» und «Unterschläger» gibt. Bei Oberschläger werden die Schiffchen oben angeschlagen, um den Schussfaden durch die Kettfäden zu treiben, bei den anderen unten. Laufen die sechs Maschinen gleichzeitig, ist der Lärm enorm.
Während der zwei Wochen Dreharbeiten produzierten die Arbeiterinnen und Arbeiter rund 1000 Küchentücher und andere Stoffe. Der Stundenlohn betrug 1914 etwa 30 bis 40 Rappen. Am Zahltag musste jede Arbeiterin und jeder Arbeiter einzeln ins Büro um die Tüte mit dem Geld zu holen, ein Gang, der für manche sicher nicht nur angenehm war.
Zum Abschluss der Dreharbeiten in Juckern werden die Szenen mit dem Zirkus «filacro» aufgenommen. Auf einem Seil treibt der Clown seine Spässe, ein martialisch aussehender Kerl zeigt Flickflacks und andere Kraftmeiereien, zwei anmutige Damen jonglieren. Das Publikum ist offensichtlich begeistert. Das hört man am kräftigen Klatschen und zustimmenden Rufen.
Die Crew vom SRF ist zufrieden, die Aufnahmen sind im Kasten und man ist gespannt, wie die Grossproduktion im August beim Schweizerischen Fernsehpublikum ankommt.

© SRF, Oscar Alessio

© SRF, Oscar Alessio

 

«anno 1914 – Leben wie vor hundert Jahren»
Die TV-Sommerproduktion von SRF

Ausstrahlung vom 4. bis 22. August 2014 auf SRF1
Montag bis Freitag direkt im Anschluss der verkürzten Sendung «Schweiz aktuell» um 19.10 Uhr auf SRF 1
4., 11., 18. August, je 45 Minuten nach 21.00 Uhr: Sabine Dahinden auf den Spuren von Institutionen, Gebäuden und Errungenschaften von 1914.
8.,15., 22. August, je 45 Minuten nach 21.00 Uhr: Zusammenfassung des Wochengeschehens und Vertiefung mit Schweizer Historikern.

Erschienen in «Der Tößthaler»; 31. Mai 2014

 

 

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