Vom Nutzen des Ärgers für das Leben

guylang —  18. November 2013 — Kommentiere

«Merdre», dieser klassische Stückanfang des französischen Autors Alfred Jarry (1873 bis 1907) für seinen «Ubu Roi», ist der optimale Ausruf um seinen Ärger loszuwerden. Nicht «Scheisse» – das wäre schlicht zu primitiv – sondern eben «Schreisse». Und es ist sicher die bessere Variante als gleich dreinzuschlagen und die Quelle der Unbill umzubringen oder zu demolieren.

AutofahrtDa fuhr ich neulich gemütlich durch Zürichs Strassen. Und plötzlich – ein Blitz. In meine Gedanken versunken, hatte ich nicht aufgepasst und den mir längst bekannten Blechfotografen schlicht vergessen. Na ja, selber blöd, dachte ich bei mir. Doch knapp 150 Meter weiter blitzte es wieder! Diesmal war es einer dieser mobilen Kästen, die jeden Tag woanders stehen. Und jetzt ärgerte ich mich gewaltig. Meine bis anhin fröhliche Stimmung war im tiefsten Keller, meine sprudelnden Ideen versiegten, ich war nur noch aggressiv. Das war reine Schikane, nur Geldmacherei der Schmier. Merdre.
Die Tage danach fiel mir auf, dass die Autos in Zürich nur so dahin schlichen. Alle langsamer als die erlaubten 50 Stundenkilometer. Eigentlich logisch, dachte ich mir. Denn wer will schon das Risiko eingehen, sein sauer verdientes Geld für unvorteilhafte Fotografien auszugeben? Die Folgen von allzu korrektem Fahren wären allerdings schlimm: noch mehr Staus bilden sich, Hupkonzerte dröhnen, der Lärmpegel wächst ins Unermessliche, Menschen erleiden vor lauter Ärger Herzattacken, die Gesundheitskosten steigen, die Krankenversicherungen werden teurer… Schliesslich müssen Mindestgeschwindigkeiten eingeführt werden. Und die Bussen bei Unterschreitung wären doppelt so hoch wie diejenigen, die für Raser verhängt werden. Da hilft auch Merdre nicht mehr weiter.
Also muss das Lebensziel heissen: «Nie mehr ärgern». Nicht nur im Strassenverkehr, ganz allgemein. Es gibt zahlreiche Kurse, Anleitungen und Lektüre dazu. Und auch ungezählte Lehrmeisterinnen und Gurus. Wenn sich alle Menschen dieses ideale Motto einverleiben, werden wir in einer harmonisch ausgeglichenen Welt leben, wo sich niemand mehr in die Quere kommt. Und vor lauter Höflichkeit und Rücksichtsnahme, kommen keine Streitereien mehr auf. Niemand entwickelt mehr eine Idee oder ein Produkt, das in irgend einer Form irgend jemandem in den falschen Hals gelangen könnte.
Friede und Freude herrscht. Kein Ärger mehr heisst Ausgeglichenheit  und Zufriedenheit. Es bedeutet aber auch: keine Emotionen. Keine Wut, kein Lieben, kein Mögen, kein Hassen. Somit kann kein Antrieb existieren, sich etwas zur Verbesserung der Situation einfallen zu lassen. Ganz zu schweigen von den Verlusten für Juristen, Mediziner und Pharmakonzerne, die ihre Hilfe bei Gerichtsterminen, Magengeschwüren und anderen Stresssymptomen nicht mehr verkaufen können. Also: Ärger ist ein Wirtschaft und Wohlstand erhaltender, unverzichtbarer Faktor im Leben. Merdre.

Erschienen in HR Today

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