Traditionserhalt – oder?

guylang —  11. März 2013

Im April 2006 schrieb ich folgenden Text. Sieben Jahre später erinnert mich ein Werbeplakat im Tram daran – offenbar ist die Kolumne von damals noch aktuell:

Buecherwand

Wie viel Zeit braucht der Traditionserhalt?
Kennen Sie die «Buddenbrooks»? Sicher. Sie wissen auch, dass der Roman seinem Erzeuger Thomas Mann 1929 den Nobelpreis für Literatur eintrug. Und dass das Werk mit dem Untertitel «Verfall einer Familie» zu denjenigen gehört, deren Lektüre geradezu bildungsbürgertümliche Pflicht ist. Ein Lesemuss der Allgemeinbildung. Aber – Hand aufs Herz – haben Sie den Wälzer wirklich schon gelesen? Immerhin handelt es sich um rund 767 Seiten. Wenn man annimmt, dass man für eine Seite etwa vier Minuten braucht, ergibt das 3068 Minuten. Und wer hat nebst dem Einverleiben von Börsenkursen, «20 Minuten», Visitenkarten, E-Mails sowie ab und an eines Fachschinkens noch Zeit für ein «normales» Buch?

Jetzt ist die Rettung nah. Eine der renommiertesten Schweizer Zeitungen – und das ist erstaunlich, denn sie legt viel Wert auf Werte – und ein Jungunternehmen, das sich auf die Zusammenfassung von Literatur spezialisiert hat, haben sich gefunden und veröffentlichen Kurzfassungen von Weltliteratur: «Krieg und Frieden», «Madame Bovary», «Faust I» oder «Odyssee». Auf 14 Seiten. Diese lassen sich in kürzester Zeit bewältigen. Und man weiss über Inhalt, Autor, Stil und historischen Hintergrund Bescheid. «Auf diese Weise wollen wir einen Beitrag zur Erhaltung der Überlieferung leisten», schreibt der Redaktionsleiter im Editorial des «Klassiker kompakt». Denn er beklagt, dass «das Bewusstsein für Traditionen zunehmend verloren» geht.

Die Absicht scheint ehrenwert. Doch wozu brauche ich eine neue Broschüre? Ich hocke ja sowieso an meinem zeitsparenden täglichen Arbeitsinstrument – dem Computer, Laptop, Blackberry oder so. Und dort gebe ich einen Romantitel – falls ich überhaupt ein kleines Zeitfenster für lesenden Müssiggang finde – bei einer Suchmaschine ein. Als Ergebnis erhalte ich in etwa die gleichen Informationen. Und sorge in «geraffter Form» für den Traditionserhalt in unserer Gesellschaft. Ich raffe mir quasi die abendländische Kultur zusammen. Das kommt mir so vor, als sollte ich vom Lesen einer Rezeptsammlung satt werden. Oder dass der geballte Zusammenschnitt mit Toren und sonstigen Höhepunkten am TV mir ein Fussballspiel ersetzen soll.

Doch vielleicht ist das auch gut so. Denn die Zeit vergeht immer schneller, die Freizeit muss mit Fitnessvermehrung verbracht werden, und das Lesen im stillen Kämmerlein ist unsozial. Dennoch bleibt der Anspruch der Bildung bestehen. Also Kurzfassungen lesen. Und wenn schon, dann mit dem Segen einer kulturellen Institution – wie dem Verlag an der Falkenstrasse in Zürich. Dennoch – die dünnen Klassiker vermitteln ein dünnes Wissen.

Erschienen in HR Today, 4 / 2006