Buchbesprechungen für die «SonntagsZeitung»

guylang —  1. Mai 2014

Alle Kurzbesprechungen sind in der «SonntagsZeitung» erschienen

Geschichten aus der Kindheit, Urs Schaub, «Das Lachen meines Vaters», Limmat
Wie ein kleiner Gott fühlt sich der kleine Urs Schaub – als Kind verbrachte er die Sommer auf dem Bauernhof von Verwandten –, als er die angespannten Pferde alleine lenken darf. Sein Onkel hat ihm die Zügel in die Hand gegeben und sich hinten auf den Wagen gesetzt. Doch als sie ankommen ist der Onkel nicht mehr da. Oder er verliebt sich in das schwarz bezopfte Vreneli beim Kühe hüten. Und er erzählt, wie sein Vater das ansteckende Lachen verloren hat. Diese und weitere Kindheitserinnerungen sammelt der Schweizer Schriftsteller in einem kleinen Band. Er zeichnet all die Originalen und – in aller Normalität – aussergewöhnlichen Menschen mit einer meisterhaft beherrschten, lebendigen Sprache, mit der er Gefühle, Tempo und Emotionen steuert.

Roman, Lola Lafon, «Die kleine Kommunistin, die niemals lächelte», aus dem Französischen von Elsbeth Ranke, Piper
Nadia Comǎneci – mit 14 sprengte das rumänische Wunderkind auf dem Schwebebalken die elektronische Anzeigetafel. 10.0 Punkte konnte nicht angezeigt werden, es galt als unmöglich, die Höchstnote zu erreichen. Sie stieg  zum weltweit bejubelten Kinderstar auf, ein Aushängeschild von Ceaușescus Rumänien.
Die französische Journalistin und Autorin Lola Lafon, sie ist in Sofia und Bukarest aufgewachsen, legt mit ihrem Roman die Biografie eines Körpers vor, in dem sie das Leben Nadias mittels zahlreicher Quellen rekonstruiert. Es geht ihr dabei weniger um die Person, mehr interessieren sie das Verhältnis eines kommunistischen Staates zu seinen Aushängeschildern sowie Leiden und Selbstdisziplin bis zur höchsten sportlichen Spitze. Ein faszinierender Weg, sich mit der Vergangenheit ihres Ursprungslandes auseinanderzusetzen.

Erzählungen, Alex Capus, «Mein Nachbar Urs», Hanser
Ein Grill, fünfmal Urs und einmal Alex. In dieser Zusammensetzung treffen sich die Oltener Nachbarn häufig. Sie erzählen, plaudern über alltägliche, gewöhnliche und aussergewöhnliche Dinge und Alex Capus hat das zu einem Band zusammengefasst. Charmant und empathisch kommen die kurzen Geschichten daher, der Schweizer Autor beobachtet genau und erweckt seine Mitmenschen mit einem Augenzwinkern zum Leben. Manchmal wirken die Situationen etwas absurd, oft komisch, immer aber tief menschlich. Etwa wenn die geschiedene Frau von Herbert wieder einen Herbert heiratet und der erste Herbert bei der Trauung dabei ist. Und Capus singt ein Loblied auf Olten, seinen Bahnhof und das überschaubare Leben in der Kleinstadt. Bei der genussvollen Lektüre wird schnell klar: Olten ist überall.

Roman, Urs Zürcher, «Der Innerschweizer», Bilger
Der junge Student ist neu an der Uni Basel, lebt mit Hegel, Mona und Kati in einer WG und führt Tagebuch. Diese Ausgangskonstellation inspirierte den Schweizer Autor Urs Zürcher – er ist Ressortleiter an der Berufsfachschule Basel – bei seinem Debut «Der Innerschweizer» zu einem faszinierenden Roman über die Unruhen der Achtzigerjahre. Die Jugendlichen radikalisieren sich mehr und mehr, schliesslich läuft eine Aktion aus dem Ruder und es kommt zu einem Krieg in der Nordschweiz. Dabei spielt Zürcher raffiniert mit einer Mischung aus Realität, Fiktion, dem banalen WG-Leben mit der Suche nach Liebesbeziehungen und der politischen Konstellation im Kalten Krieg und persönlichen Entwicklungen und Allgemeinheit. Leider führt die Tagebuchform dazu, dass zwischendurch Längen entstehen und sich die Spannung verflacht.

Roman, Gertrud Leutenegger, «Panischer Frühling», Suhrkamp
Strahlender Frühling in London, blauer Himmel, keine Flugzeuge darin, der Vulkan Eyjafjallajökull hat den Flugverkehr lahm gelegt. Der Gedanke an herumfliegende Aschepartikel erinnert die Ich-Erzählerin beim Spazieren durch die pulsierende Stadt an ihre Kindheit in der Schweiz. Und dann fasziniert sie ein junger Mann, der eine Obdachlosenzeitung anbietet – nicht nur wegen einer krankhaft flammend-roten Gesichtshälfte.
Für die Schweizer Schriftstellerin Gertrud Leutenegger ist diese Begegnung der Schlüssel ihres neuen Romans «Panischer Frühling». In stimmungsreicher und poetischer Sprache schildert sie Erinnerungen und Seelenzustand der Protagonisten, ihre Befindlichkeiten und ihre Suche nach sich selber. Dabei entsteht das farbenreiche Leben von Londons Quartieren, Menschen und alltäglichen Ereignissen vor den Augen der Leser.

Roman, Urs Faes, «Sommer in Brandenburg», Suhrkamp
Jung sind sie und verliebt – Lissy und Ron finden sich im Sommer 1938 auf einem Landgut Brandenburg. Dort werden sie und andere Jugendliche vor ihrer Ausreise nach Palästina auf das strenge Leben in einem Kibbuz vorbereitet Zu dieser Zeit duldete die deutsche Regierung diese jüdischen Landwerke noch. In seinem neuen Roman «Sommer in Brandenburg» beschreibt der Schweizer Autor Urs Faes ein wenig bekanntes Kapitel der jüdischen Geschichte im nationalsozialistischen Deutschland mittels einer zarten Beziehung. Es gelingt ihm aller schrecklicher Geschehnisse zum Trotz ein poetisches Buch. Seine Sprache ist sorgfältig, seine Menschen einfühlsam gezeichnet. Und immer wieder keimt in der Tristesse des Alltags die Hoffnung auf ein glückliches Leben in der Ferne.

Roman, Martin R. Dean, «Falsches Quartett», Jung und Jung, 380 S., CHF 34.90
Lucas Brenner ist Deutschlehrer aus Passion, seine Frau Lisa soeben entlassene Bildredaktorin. Während sie verzweifelt nach neuen Wegen in ihrem Leben sucht und schliesslich bei der künstlerischen Porträtfotografie landet, versucht er seinen Schülerinnen und Schülern die Leidenschaft für Literatur einzupflanzen. Dabei stehen vor allem die geheimnisvolle Nadja und Deniz mit seinen türkischen Wurzeln im Mittelpunkt.
Dem Schweizer Schriftteller Martin R. Dean gelingt mit «Falsches Quartett» ein subtiles Psychogramm von vier Personen, deren Beziehung sich zwischen Gefühlen, eigenen Verletzlichkeiten, Suche und Abhängigkeiten abspielt. Präzise beobachtet und klar formuliert, wachsen die Charaktere zu fassbaren Menschen mit all ihrer Verzweiflung, Sehnsucht und den Versuchen, sich selbst zu finden.

Roman, Banana Yoshimoto, «Der See», aus dem Japanischen von Thomas Eggenberg, Diogenes
Chihiro wohnt schräg gegenüber von Nakajima, sie bemerken sich, winken sich zu, fühlen sich gegenseitig angezogen und leben schliesslich zusammen. Doch sie sind kein «normales» Liebespaar – es liegt ein unergründliches Geheimnis aus der Vergangenheit zwischen ihnen. Filigran, behutsam und empathisch zeichnet die japanische Erfolgsautorin Banana Yoshimoto die Beziehung der zwei jungen, verletzlichen Menschen. Durch die Augen des anderen finden sie zu sich selber, ihre Reise an einen tiefschwarzen See wird zum Schlüssel der Liebesgeschichte. «Der See» bezaubert durch eine unerhörte Leichtigkeit und Poesie.

Roman, Woody Guthrie, «Haus aus Erde», Eichborn
Der Sandsturm jagt heulend durch alle Ritzen der einfachen Holzhütte. Logisch, dass Ella und Tike vom Bau eines Hauses aus Lehmziegeln träumen. Doch weder Land- noch Besitzverhältnisse lassen dies zu, der Boden gehört der Bank.
Der charismatische Folksänger Woody Guthrie (1912–1967) – Idol von Bob Dylan und Bruce Springsteen – hinterliess einen einzigen Roman, Johnny Depp hat ihn 2013 im englischen Original herausgegeben. Guthries Sprache ist unverblümt. Oft wird er jedoch ausufernd. Dennoch, ein lesenswertes Zeitdokument aus dem ländlichen Amerika der Vierzigerjahre. (gal) **

Tagebuch, Wolfgang Herrndorf, «Arbeit und Struktur», Rowohlt
Herrndorf«Meine Angst vorm Strassenverkehr ist wieder nahe null. Nirgends gegengefahren. Einen Eichelhäher gesehen, einen Hasen, ein Eichhörnchen und eine Schlange.» Ein Blogeintrag von Wolfgang Herrndorf (1965 bis 2013), der exemplarisch seine Kunst der Verdichtung zeigt. Nachdem der preisgekrönte Autor des Bestsellerromans «Tschick» 2010 die Diagnose «bösartiger Hirntumor» erhalten hatte, verging er nicht in Selbstmitleid, sondern entschied sich für «Arbeit und Struktur». Jetzt erscheinen die Texte als Buch. Ein faszinierendes Zeugnis, wie er mit Krebs lebte: verzweifelt, voller Hoffnung, sarkastisch. (gal)****

Roman, Jürg Amann, «Die erste Welt», Nimbus
Heiter sind die Erinnerungen an seine Kindheit, ernsthaft und genau – Jürg Amann (1947 bis 2013) hinterlässt als letztes, wunderbares Büchlein «Die erste Welt». Er entführt ins «Dorf» – so die Bezeichnung des Quartiers im Norden von Winterthur –, wo die Kinder noch auf der Strasse Völkerball spielen konnten, der Milchmann die Milch «mit einer metallenen Schöpfkelle» aus einer grossen Kanne in den Milchkessel füllte und Bauer Dähler mit dem Pferdegespann Früchte und Gemüse verkaufte.
Dort wächst der Schweizer Autor auf, dort erlebt er Kindheit, Jugend und langsames Erwachsenwerden. Er tupft die Bilder der Erinnerung sensibel, glasklar und stilistisch brillant. Sie tauchen auf, scheinbar ungeordnet. Jede Episode erhält einen, nur einen einzigen Satz, der zu einem längeren Abschnitt anwächst. Genau so, wie Geschichten vor dem geistigen Auge auftauchen – eine Flut von Momentaufnahmen, ohne innezuhalten. Hier kommt Amanns Stärke zum Zug, seine stille Erzählkunst moduliert zu einem meisterhaft komponierten Porträt der «Welt, die man vorfindet, wenn man auf die Welt kommt»Trotz der Leichtigkeit des Romans, ist stets auch der Tod allgegenwärtig. Sei es bei der Schildkröte, die von einem Auto überrollt wird, oder beim Pferd, das durchbrennt, in ein Schaufenster fällt und an der Schnittwunde verblutet. Die Konfrontation mit dem Tod ist ein zentrales Motiv im Werk von Jürg Amann, hier hat sie jedoch nichts Schweres, Belastendes, für Verzweiflung ist kein Platz. Der Tod ist einfach zur Welt und zum Leben gehörig, ein selbstverständliches Puzzleteil in der Abfolge des Lebens.
Und auch hier: Die Mutter ist ein weiteres wesentliches Thema für Jürg Amann. Die Auseinandersetzung mit ihr prägt sein Denken. Für «Rondo», wo die Pflege der schwerbehinderten Mutter zum Albtraum wird, erhielt er 1982 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Und 2003 nannte er einen Prosaband gar «Mutter töten». In seinem letzten, nachgelassenen Roman findet Amann ruhige Töne. Er beginnt das Werk, wie sich die Mutter an seinen Bruder und ihn spielend im Garten erinnert, «drei Tage bevor sie ging». Und er beendet es, wie sie «herausgerufen» wurde, «Heim, wie man sagte». Für Jürg Amann ist «Die erste Welt» sein letzter Roman, ein versöhnliches Ende.

Erzählung, Gerold Späth, «Drei Vögel im Rosenbusch», Lenos
Fabulieren ist die Lieblingsbeschäftigung des Rapperswiler Schriftstellers Gerold Späth. Auch in seiner neuen Erzählung «Drei Vögel im Rosenbusch» kostet er sie mit grosser Lust aus: die «stadtbekannte Mademoiselle Hoggh» breitet ihre weitschweifende Familiensaga aus und erzählt sie bei süffigem Weisswein einem bekannten Schriftsteller. Raffiniert verwischt Späth die Grenzen zur Flunkerei, spielt mit seltenen Wörtern – beispielsweise «umschralen» für die wabernden Rauschschwaden einer Zigarre, die ein Gesicht umwehen – und fasziniert mit seiner blühenden Phantasie. Eine kurzweilige Geschichte, die sich am Besten bei einem Glas Wein liest. (gal ****)

Roman, Lukas Hartmann, «Abschied von Sansibar», Diogenes
Die Prinzessin auf der Flucht
In «Abschied von Sansibar» verarbeitet Lukas Hartmann gekonnt das Leben von Emily Ruete (1844–1924)

von Guy A. Lang
Sansibar. Auch für den Schweizer Autor Lukas Hartmann, 68, hat dieses Wort einen sehnsüchtigen Klang: «Die Vorstellung einer fernen, exotischen Insel hat mich an diesem Namen gereizt», sagt der Gatte von Bundesrätin Simonetta Sommaruga. Und als ihm Freunde von einem Museum im ehemaligen Sultanspalast von Sansibar erzählten, das der Prinzessin Salme alias Emily Ruete gewidmet ist, war der Schriftsteller elektrisiert. «Abschied von Sansibar» heisst der neue Roman von Hartmann und handelt von der Lebensgeschichte eben dieser Prinzessin. Der Autor nähert sich ihr über ihre Kinder an. «Sie erschaffen sich durch ihre Imagination eine Mutter», sagt er, «sie füllen die Leerstellen durch die Vorstellung, wie es gewesen sein könnte.»
Am 30. August 1844 kam die Prinzessin Salme als Tochter des Herrschers von Sansibar zur Welt. Die Muslima verliebte sich in den Hamburger Kaufmann Rudolph Heinrich Ruete und wurde unehelich schwanger – ihr Todesurteil. Sie floh nach Hamburg, heiratete den Deutschen und konvertierte zum Christentum.
Schwierige Balance zwischen Orient und Okzident
Die Probleme begannen, als sie nach dem Unfalltod ihres Gatten die mittlerweile drei Kinder alleine grossziehen musste. Der Drahtseilakt zwischen Orient und Okzident endet für Emily Ruete in Verzweiflung: In Deutschland kam sie unter Vormundschaft, in Sansibar war sie unerwünscht. Hartmann, berühmt für historische Romane wie «Die Frau im Pelz» oder «Die Deutsche im Dorf», beschreibt akkurat und filigran Situationen und Stimmungen. Grossartig, wie er uns das geheimnisvolle Leiden und Leben von Emily Ruete näherbringt, nicht zuletzt durch den Originalbrief von ihr an ihren Bruder in Sansibar, den Hartmann als roten Faden durch den Roman zieht.
Auch wenn das Buch von Emily Ruete handelt, zentrale Figur ist ihr Sohn Rudolph Said. «Er war am symbiotischsten mit der Mutter verbunden», sagt Hartmann. Er beschreibt Said als einen resignierten Menschen, der versuchte, die islamische und die christliche Kultur zu versöhnen. Hartmann: «Sein Versöhnungswillen machte ihn zum Pazifisten und damit zum Landesverräter im kriegerischen Deutschland von 1914.» Hartmanns Roman ist ein Zeitdokument, in dem politische Interessen und Intrigen prägend werden für ein Familienschicksal.

Roman, Franz Hohler, «Gleis 4», Luchterhand
Der Unbekannte hilft Isabelle den Koffer aufs Perron zu tragen, dann bricht er tot zusammen. Damit fallen nicht nur ihre Ferien auf Stromboli ins Wasser, ihr alltägliches Leben wird umgekrempelt und sie findet sich in einer vertrackten Situation wieder. Franz Hohler gestaltet seine Geschichte spannungsgeladen wie ein Krimi. Er erzählt sie locker, mit viel Humor, bringt aktuelle Themen – etwa Rassismus, uneheliche Kinder in früheren Zeiten oder alleinerziehende Mütter –  auf den Punkt, ohne aufdringlich zu werden. (gal) ****

Martin Walker, «Femme fatale», aus dem Englischen von Micheal Windgassen, Diogenes
Die Leiche der Frau, die im Boot den flussabwärts treibt, ist nackt, mit einem seltsamen Tattoo verziert. Und als in einer der Höhlen im französischen Périgord ein blutiger Ziegenkopf sowie schwarze Kerzen gefunden werden, ist Bruno, Chef de Police von Saint-Denis, äusserst gefordert. Der schottische Autor Martin Walker schafft es in seinem fünften Bruno-Roman, Gemütlichkeit und Spannung zu paaren. Dabei ist ihm «Savoir vivre» ebenso essenziell, wie die Aufklärung des Verbrechen – eine genüssliche Lektüre. (gal) ****

Andrea Sawatzki, «Ein allzu braves Mädchen», Piper
Die junge Rothaarige hockt in einem grünen Paillettenkleid unter einer Tanne, abwesend, sie weiss nicht mehr, wie sie dahin gekommen ist. Erst eine Psychologin kann mit viel Geduld ihre Geschichte entlocken. Ein allzu braves MaedchenUngefähr gleichzeitig wird die nackte Leiche eines erschlagenen, alten Mannes gefunden. Andrea Sawatzki – die deutsche Schauspielerin ist vor allem durch die Rolle als Tatort-Kommissarin bekannt – legt in ihrem ersten Roman einen psychologisch raffinierten Plot vor. Doch trotz eindringlicher Schilderungen und flüssigem Stil bleibt das Gefühl von Clichés und Plattitüden. (gal) **

 

Martin Suter, «Allmen und die Dahlien», Diogenes
Das entwendete Dahlien-Bild von Henri Fantin-Latour wird auf etwas über Zwei Millionen geschätzt. Da es bereits als Gestohlenes zu Dalia Gutbauer gelangte, kann die reiche Besitzerin die Polizei nicht einschalten. Also engagiert sie den eleganten Johann Friedrich von Allmen mit seinem Team Carlos und María. Der Schweizer Erfolgsautor Martin Suter entführt in seinem neuen Roman in die nostalgische Welt der Luxushotels. Sein Stil ist gediegen, charmant seine Figuren und angenehm unspektakulär – dennoch spannend und überraschend – seine Geschichte. (gal) ****

Erich Kästner, «Über das Verbrennen von Büchern», Atrium
1933, 10. Mai – Erich Kästner stand auf dem Opernplatz in Berlin vor einem brennenden Scheiterhaufen. Er musste mit eigenen Augen ansehen, wie nationalsozialistische Schergen seine Bücher «hinrichteten». Im Oktober 1965 verbrannten jugendliche Christen wieder Bücher – von Camus, Sagan, Nabokow, Grass und – wieder von Erich Kästner. In dem schmalen Bändchen wider das Vergessen sind vier Texte versammelt, in denen der Schriftsteller seine Betroffenheit und Analysen zu den schrecklichen Vorgängen schildert: «Das blutige Rot der Scheiterhaufen ist immergrün». (gal ****)

John Rosselli, «Giuseppe Verdi, Genie der Oper», aus dem Englischen von Michael Bischoff, C. H. Beck
Ein einfacher Mensch war Giuseppe Verdi bestimmt nicht – er war geschäftstüchtig, professionell, leidenschaftlich. Er verlangte von allen, sich seiner Kunst unterzuordnen, stritt sich seinen Librettisten, Verlegern und der Zensur. Der englische Historiker John Rosselli zeichnet in seiner anspruchsvollen Biographie ein prägnantes Bild des italienischen Komponisten und Gutsherrn, der sehr genau wusste, dass Einnahmen ein Gradmesser für Erfolg sind. Für die spannende Lektüre ist es von Vorteil, wenn Leserinnen und Leser auch die seltener gespielten Opern präsent haben, musikalische Details sind Rosselli wichtig. (gal) ****

Eveline Hasler: «Mit dem letzten Schiff», Nagel & Kimche
Franz Werfel und seine Frau Alma, Walter Mehring, Heinrich und Golo Mann – zweihundert Namen standen auf der Liste von Varian Fry, als er 1940 nach Südfrankreich geschickt wurde. Nachdem die Deutschen Frankreich besetzt hatten, sollte der Amerikaner die meist jüdischen Persönlichkeiten vor der Deportation retten und ihnen die Ausreise in die Freiheit ermöglichen. Eindringlich, bewegend und unpathetisch schildert Eveline Hasler Verzweiflung und Ängste der Flüchtlinge, die illegale und aufopfernde Arbeit Frys, sowie Hoffnung und Menschlichkeit in Zeiten der Unmenschlichkeit. Ein geschichtlicher Roman der unsentimental die Schrecken einer entsetzlichen Epoche aufleben lässt. (gal) ****

Stephen King, «Joyland», aus dem Englischen von Hannes Riffel, Heyne
Joyland

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Adam Johnson, «Das geraubte Leben des Waisen Jun Do», aus dem amerikanischen Englisch von Anke Caroline Burger, Suhrkamp
Tipp der Woche

«In Nordkorea wurde man nicht zu etwas geboren, man wurde zu etwas gemacht…» – diese Aussage aus dem Roman «Das geraubte Leben des Waisen Jun Do» begleitet Leserinnen und Leser während der gesamten Lektüre. Wie der Titel besagt, ist die Hauptfigur Pak Jun Do ein Waisenknabe, der zunächst dafür ausgebildet wird, in der völligen Dunkelheit eines Tunnels zu kämpfen, seinen Hunger zu bezähmen und dank eines ausgeklügelten Trainings Schmerzen und Folterungen zu überleben. Später kidnappt er auf Befehl japanische Staatsbürger, landet als Spion auf einem Fischkutter und gelangt – immer vom Staat vorbestimmt – auf abenteuerliche Weise mit einer politischen Delegation nach Texas. Dann gelangt der naive Protagonist, der von Abenteuer zu Abenteuer stolpert, in den innersten Machtzirkel von Kim Jong-Il.
Für sein beeindruckendes Werk erhielt der US-amerikanische Schriftsteller und Collegeprofessor Adam Johnson den diesjährigen Pulitzer-Preis. Er verlegt die Handlung in das Land, das in letzter Zeit durch seine provokative Haltung in die Schlagzeilen gelangt ist. Zwar hat Johnson auf einer persönlichen Reise durch Nordkorea sorgfältig recherchiert, dennoch, eine objektive Sicht von der diktatorisch regierten Volksrepublik gibt es nicht. So legt er einen hinreissenden Roman vor, der äusserst spannend ist und einen möglichen Blick in das unbekannte, geheimnisvolle Land erlaubt. Zwar gehen die drastischen Schilderungen von Folterungen, geheimen Verliesen und Erziehungslagern manchmal an die Grenze, dennoch, die raffinierte Geschichte ist gespickt mit zynischem Humor, einem sensiblen Blick auf Einzelschicksale, unrealistischen Handlungselementen und einem ausgeprägten Sinn für Dramatik. (gal) ****

Stephan Pörtner, «Mordgarten», Applaus
Der Tote im Hof der Siedlung ist das Opfer einer über den Schädel gezogenen Weinflasche. Der Mörder ist schnell gefunden – George, ein Alkoholiker. Für den Abwart Edi Zingg ist er jedoch der Falsche, also begibt er sich auf Suche nach dem Richtigen. Der Zürcher Autor Stephan Pörtner präsentiert mit «Mordgarten» einen Kriminalfall der eher biederen Sorte. Dennoch – leicht ironisch, locker erzählt und mit genau charakterisierten Personen trifft er den Alltag in einer Genossenschaftssiedlung. Nicht zufällig, ist der Krimi doch ein lesenswertes Auftragswerk zum Jubiläum des Verbands der Wohnbaugenossenschaften. (gal) ***

Nick Dybek, «Der Himmel über Greene Harbor», übersetzt von Frank Fingerhuth, mareverlag
Seit Generationen ist Alaska Ziel der Krabbenfischer  von Loyalty Island, die stolz auf ihren harten Beruf sind. Sie – darunter der Vater von Cal – verlassen ihre Familien für ein halbes Jahr und bringen reiche Beute. Alles geht seinen gewohnten Gang bis der alte Patron stirbt und sein Sohn Schiffe und Fischereirechte verkaufen will, ihr Leben also existenziell bedroht ist. Nick Dybek erzählt die spannende Geschichte dieser einfachen Menschen voller Verstrickungen in Traditionen und  Familienbeziehungen, aus Sicht des vierzehnjährigen Cals. Ein starker Debutroman, überzeugend, dicht, differenziert. (gal) ****

Wagner

Sarah Quigley: «Der Dirigent», Aufbau
Der Erstausgabe liegt eine CD mit der 7. Symphonie von Schostakowitsch bei.

Hunger, Kälte und Erschöpfung – die wenig übriggebliebenen Orchestermusiker des Leningraders Rundfunkorchester brechen beinahe zusammen. Doch Dirigent Karl Eliasberg – selbst am Rand seiner Kräfte – probiert 1941 unerbittlich die 7. Symphonie von Schostakowitsch, komponiert unter schwierigsten Umständen. Das Werk soll aus dem belagerten und weitgehend in Trümmern liegenden Leningrad als Zeichen des Überlebenswillen über Rundfunk verbreitet werden. Die neuseeländische Autorin Sarah Quigley beschreibt intensiv und poetisch den unerbittlichen Kampf ums tägliche Leben und die Schaffenskraft von Menschen in schrecklichen Situationen. Dabei mischt sie gekonnt Fakten und Fiktion, schafft ein lesenswertes, sensibles Porträt über Musik, Schostakowitsch und Leningrad. (gal) ****

Maarten ’t Hart, «Unter dem Deich», aus dem Niederländischen von Gregor Seferens, Piper, 269 S., CHF 32.90
Liebevoll und blumig erzählt der niederländische Schriftsteller Maarten ’t Hart in einem ersten Teil des Romans von den Menschen seiner Jugendzeit. Er erweckt skurrile, gottesfürchtige Personen zum Leben, die «unter dem Deich» wohnen – dort wo jeder Gulden umgedreht werden muss. Zweiter Teil, «Der Kreisel»: Auch Clazien stammt von unten, schafft es aber auszubrechen und nach «oben» zu entrinnen.
Während der Autor im ersten Teil eine spannende Begegnung mit einer betulichen und dennoch bedrohlichen Welt voller Leben zaubert, wirkt der rastlose Ehrgeiz im zweiten Teil etwas aufgesetzt und brav. (gal) ***

Regenbogentruppe

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Franziska Häny, «Der Rote Norden», weissbooks.w

Ihr totgeglaubter Bruder Martin ruft an und bestellt Sophie an die Beerdigung einer Tante. Sie folgt dem Ruf und entdeckt, dass ihre Tante zwar hilfebedürftig ist, aber noch lebt. Als Martin sie noch nach Imalo in den «Roten Norden» bestellt, ist ihre Welt völlig durcheinander. Franziska Häny schickt die Protagonistin in ihrem Debütroman – die Schweizer Autorin ist Jahrgang 1950 – auf eine Reise, von der nie ganz klar wird, ob Sophie einem emotionalen Phänomen oder einem realen Ziel nachjagt. Psychologisch geschickt erzählt Häny den Aufbruch einer älteren Frau aus festgefahrenen Gleisen in eine selbstgefundene Freiheit. (gal) ***

David Grossman, «Aus der Zeit fallen», Hanser
Trauer, die grosse Trauer nach dem stets unfasslichen Tod eines geliebten Menschen – sensibel und verständnislos klagt der israelische Schriftsteller David Grossman um seinen Sohn. Er wurde zwanzigjährig im Libanon-Krieg getötet. Zwischen antiker Tragödie, Prosagedicht, poetischer Trauerarbeit und intimer Verzweiflung ist «Aus der Zeit fallen» eine intensive Auseinandersetzung mit Angst, Verlust, dem Leben. Ein Chronist berichtet sachlich das Geschehen, betroffene Personen, die ihre Kinder verloren haben, versuchen mit ihren Gefühlen klar zu kommen. Ein Buch, das langsam zu lesen ist, ein Buch das weniger betroffen denn nachdenklich macht. (gal)  ***