Türkei – Impressionen einer aussergewöhnlichen Reise

guylang —  9. Januar 2013

Regula Langemann und Suna Yamaner feiern das metapuls-Jubiläum mit einer ganz besonderen Reise: «Zu den Wurzeln unserer abendländischen Kultur ins Morgenland». Für sie sind es Rückblick auf 20 Jahre metapuls, kritische Auseinandersetzung mit festgefahrenem Geschichtsverständnis, feministische Blicke auf Kultur- und Geschichtsforschung im alten Europa und eine gemeinsame Reise gleichermassen. Mit der Reise wollten sie das, was sie seit zwanzig Jahren entwickelt und umgesetzt hatten, mit anderen teilen. So beauftragten sie Women Travel, eine Reise zu organisieren, die diesen Ansprüchen gerecht werde und die für alle Interessierten offen angeboten wurde.

Mustafa

Also trafen sich eine Grupp von elf Frauen und einem Mann am frühen 1. September 2012 zum Abflug über Istanbul nach Ankara, wo sich weitere zwei Frauen zur Gruppe gesellten. Abgeholt wurden sie von Hüseyin, ihrem Reiseleiter von Ankara durch Anatolien – so bezeichnen Türkinnen und Türken ihr gesamtes Land – und wieder zurück. Die Karawane war unterwegs. Schon auf der ersten, kurzen Fahrt zum Hotel begeisterten Landschaft und Leben auf den Strassen rund um Ankara – ein Eindruck, der sich bei fortschreitender Reise mehr und mehr verstärkte.

Ankara – archäologisches Museum, Zitadelle, Atatürk-Mausoleum, Hamam
Die Taxifahrt war atemberaubend. Kupplungen schleifen lassen und hupen scheinen die wichtigsten Merkmale türkischer Taxifahrer zu sein, kein Wunder bei dem enormen Verkehrsaufkommen. Schliesslich führten die Strassen durch die Altstadt steil hoch zur Zitadelle. Das anatolische Essen schmeckte gut, die Kellner setzten sich beim Zerschneiden von pizzaartigen Fladen mit riesigen Schwertern in Szene, die Aussicht auf die nächtliche Hauptstadt ist beeindruckend – ein wunderbarer Einstieg in eine Türkeireise.
Der Spaziergang – der Morgen war noch angenehm kühl – führte wieder hoch zur Zitadelle, über Kopfsteinpflaster, durch alte Gässchen und Stadttore, vorbei an kleine Moscheen, pittoresken Häusern, Hütten und Verkaufsständen mit Nüssen und getrockneten Früchten. Erst jetzt war die Grösse Ankaras zu erkennen, das Tageslicht liess den Blick über das Häusermeer noch imposanter erscheinen. Auf dem Weg immer wieder Szenen, die das Herz erfreuten. Etwa ein junger Verkäufer, der sein Gestell mit Pommes-Chips-Säckchen und verpackten Guetzlis mit kaltem Wasser abspritzte, um seine Ware kühl zu halten und vom Staub der regen Bautätigkeit zu reinigen.
Der Besuch im Anatolian Museum of Civilization brachte die anatolische Geschichte und die Wurzeln der abendländischen Kultur näher, Funde der Hethiter, Reliefs mit Jagd- und Kriegsszenen, bezaubernde Statuen von Frauenfiguren und Göttinnen – darunter die faszinierende Frau auf dem Leopardenthron aus Çatalhöyük, einer ausgegrabenen Siedlung aus der Jungsteinzeit  –, reizende Tierdarstellungen in Ton und Metall.
Gewaltig ist die Leistung von Staatsgründer Kemal Atatürk, seine Visionen eines modernen Staates ohne religiöse Verflechtung, seine Durchsetzungskraft zu Veränderungen, sein geschickter Einbezug der Bevölkerung. Gewaltig ist auch das Mausoleum zu seinem Gedenken, das auf Rasatepe steht, einem von den Phrygern im 12. Jh. v. Chr. als künstlich errichteter Grabhügel, thront. Nicht zu vergessen: der erholsame und amüsante Aufenthalt in einem Hamam.

Kultort der Sonnengöttin und Hethiter
Suna Yamaner nutzt die Fahrt in den Süden und bringt Riane Eisler und ihr Buch «Kelch und Schwert» sowie Maria Gimbutas «Die Sprache der Göttin» näher. Beide erforschten die Ursprünge unserer Kultur und analysierten die sozialen Beziehungen. Dabei fanden sie während eines Zeitraums von mehr als 20 000 Jahren die Spuren von partnerschaftlichen Kulturen. Egalitäre Partnerschaften zwischen den Geschlechtern, Ethnien und Berufen sorgten dafür, dass kaum kriegerische Auseinandersetzungen geführt wurden. Wichtig ist die Frage nach Linking oder Ranking, Partnerschaftlichkeit oder Dominanz. metapuls folgt der uralten Spur der Grossen Göttin und gleichgeordneten Partnerschaftsmodellen. Frieden und Ausgeglichenheit dank Frauen, das Universum als alles Leben spendende und Leben erhaltende Mutter. Gestützt werden die interdisziplinären Wissenschaftlerinnen durch zahlreich gefundene Symbole, die ja selten abstrakt sind.
In Alacahöyök wurden Königsgräber aus dem 3.Jh. v. Chr gefunden. Mächtige Steinfiguren markieren den Eingang zur Ausgrabungsstätte. Es soll sich auch um einen Kultort der Sonnengöttin handeln. In mehreren Grabstätten, sie sind mit einer Plexiglasdecke geschützt, finden sich die Nachbildungen von den Statuetten, deren Originale sich im Museum von Ankara befinden.
Weiterfahrt über das Hetitische Heiligtum Yazılıkaya mit Felsenkammern und in Stein gehauenen Prozessionen zur Hethitischen Hauptstadt: Hattuša. Das Reich der Hethiter in der Spätbronzezeit (etwa 1250 bis 750 v. Chr.) war riesig. Entsprechend war die Hauptstadt mit dem Königspalast und Tempelanlagen. An und auf einem Hügel gebaut, kann man die enormen Ausmasse erkennen. Und die handwerkliche Kunst des Mauerbaus bewundern: lückenlos schmiegen sich die gewaltigen Steinbrocken aneinander, bilden Tore und Stadtmauern.

Loewentor Hatusa

Ob Löwen-, Sphinx-, Königstor, Tunnel durch den Stadtwall oder Hieroglyphenkammer, die Zeugnisse der Hochkultur sind beeindruckend.

Derwische, Höhlenkirchen, Ballonfahrt, Teppiche – die Vielfalt Kappadokiens
Weiche Hügel, märchenhafte Krater, liegende Rebstöcke, skurrile Tuffsteingebilde, metallisch schimmernde Basaltsäulen – Kappadokien zieht alle Register der Verführung. Fahrt durch eigenartige Mondlandschaften in den Ort Göreme. Dort finden sich Zeugnisse der frühen christlichen Religion, mit Ikonen ausgemalte Kirchen und Kapellen. Alles Höhlen in Tuffgestein geschlagen. Sie boten Schutz vor Verfolgern und Kühle in den heissen Tagen. Eine Gegend, die an einen Zauberwald erinnert: lauter riesige Pilze.
Die ersten Kirchenbauten stammen aus dem 4. Jh., in dem sich auch die ersten Bewohnerinnen und Bewohner ansiedelten. Ca. 1100 wurden die Ylanli- und die Barbarakirche mit einem Tonnengewölbe gebaut, 1200 folgte die Çariklikirche. Göreme wurde 1924 verlassen.
Kontemplativ, beruhigend und äusserst beeindruckend war der Ausklang des dicht gedrängten Reiseprogramms: der ekstatische Tanz der Derwische in einer alten Karawanserei. Der Reiseleiter Hüseyin konnte den Besuch – wie so vieles – kurzfristig organisieren. Sein umfassendes Wissen, seine ruhige und zurückhaltende Art sowie sein sensibles Eingehen auf Gruppenwünsche und individuelle Bitten, hat alle überzeugt. Sein Deutsch ist elegant, kleine, ihm nicht bewusste Finessen – der Unterschied zwischen «aufbewahrt» und «aufgebahrt» mag als Beispiel dienen – nimmt er sofort in seinen Wortschatz auf, seine Ausführungen über Schulsystem, Politik, Türkische Geschichte, Gesteins- und Landschaftsformen haben Hand und Fuss.
Bunte Kugeln am Himmel – hunderte Ballons, eine Touristenattraktion Kappadokiens – schweben über die zerklüftete Landschaft mit spitzen Kegeln, weissen, gerundeten Felsen voller Tauben, mit Büschen bewachsenen Sandtälern.

Kappadokien

Stilles Gleiten – unterbrochen durch lautes Zischen beim Einfeuern der Hülle – sorgte für ein Gefühl von Schwerelosigkeit.
Der Weg zur unterirdischen Stadt in Derinkuyu mit ihren weit verzweigten Strassen und Tunnelsystemen führte einem Fluss in einem Canyons entlang: staubig gelbe Wege, daneben leuchtend grüner Tang im dahin gurgelnden Wasser und im Hintergrund rote Berge – Farbenspiele von höchster Ästhetik und reizvollen Gegensätzlichkeit.
metapuls Teppich

Zum Jubiläum überreichte die Gruppe Suna und Regula einen handgeknüpften Teppich mit metapuls-Logo. Die Tradition der Teppichknüpfkunst ist in der Türkei zentral, die Arbeitsverhältnisse der Knüpferinnen sind zeitgemäss und sozial. Vorträge und Vorführungen über Teppiche, Muster, Herstellung, Geschichte, Seidenkokons und andere Materialien waren ein Erlebnis.
Wein und sehnsuchtsvoll lustige Liebeslieder mit Saz, Laute und Kanun im Hof eines reizenden Weinlokals rundeten den Tag.

Der lange Weg nach Katha
Heisse Fahrt durch wieder aufgeforstete Hügel, weite betörende Landschaften, Rast in hübschen, kleinen Cafés die immer billiger werden, je weiter wir südostwärts gelangen.
Verschiedene Beiträge während der Fahrt:
– Lesung aus Necla Kelek: «Bittersüsse Heimat», Kiepenheuer & Witsch.
– Über Märchen und die Märchenerzählerin Elsa Sophia von Kamphoevener.
– Über den türkischen Einfluss auf die europäische klassische Musik.
– Über das Schulsystem mit Lesung aus: Ferit Edgün: «Winter in Hakari», Unions Verlag.
Die Informationen inspirieren zu weiterführender Lektüre und Recherche über die traditionelle und moderne Türkei.

Im Schmelztiegel zwischen Ost und West
Das Land Kommagene und die Karakus-Hügel, das Grabheiligtum der Frauen des Könighauses Kommagene – Säulen und künstlich aufgeschüttete Grabhügel. Kultstätten wie diese zeigten die Herrscher als «göttlich» und legitimierten so ihren Machtanspruch. Diese mussten in diesem Schmelztiegel zwischen den Römern und dem Diadochenreich der Alexandernachfolger lavieren, um einigermassen in Frieden zu leben. Die römische Brücke über den Cendere und die antike Stadt Arsameia auf den Felsen sind Zeugnisse jener Zeit.

Sonnenuntergang auf Nemrut Dağı
Der Berg Nemrut im Taurus Gebirge ist 2206 m hoch und diente König Antiochos I als Heiligtum seiner neu gestifteten Religion, einer Vereinigung der griechischen und der persischen Mythologie. Dafür liess er 200 000 m3 massiven Fels abtragen und ein gigantisches Grabmal aufschütten, 150 Meter im Durchmesser und 150 Meter hoch. Auf drei Terrassen beeindrucken Köpfe, Tierfiguren, Statuen und Stelen.

Nemrut

Der Besuch bei untergehender Sonne wurde zu einem Höhepunkt der Jubiläumsreise von metapuls und ihren Gründerinnen.
Abenteuerliche Fahrt auf Naturstrassen über steile Pässe mit engen Kurven und noch der letzte Aufstieg zu Fuss. Die Aussicht, der Berg, die Kolosse, alles war erhebend, eindringlich und wunderschön. Eine Flasche Wein, während sich die Sonne sich dem Horizont näherte und in der Ferne Euphrat und die weite Landschaft schimmerten.

Prähistorisches, Biblisches und Heutiges
Überquerung des Euphrats ins Zweistromland. Die Landschaft ist archaisch, grosse Schafherden weiden neben der Strasse, die Gegend ist fruchtbar, Wasser ist reichlich vorhanden, dafür sorgt der Atatürk-Staudamm.
In Sanlıurfa, dem ehemaligen Edessa, soll Abraham geboren worden sein, ihm zum Gedenken gibt es einen Karpfenteich, der nahe einer wichtigen Moschee und der Geburtshöhle liegt. Die lebhafte Stadt ist eine der heiligsten Stätten im Islam, ein Wallfahrtsort von hoher Bedeutung. Wunderbares Museum: Funde aus prähistorischer Zeit, Maria- und Jesusfiguren, Trachten, Waffen, Holztüren, Schmuck, Jugendstilflacons – alles was für die Menschen von kulturellem Wert ist, wird ausgestellt. Dieses scheinbar chaotische Nebeneinander ist faszinierend. Das bunte und lebhafte Treiben auf den Strassen und im Basar war genauso: Menschen verschiedenster Ethnien – Araber, Kurdinnen, Türken, Moslem, Juden, Christinnen – leben hier und machen miteinander Geschäfte. Eine unglaublich anregende und lebendige Stadt.
Durch entlegene Wege und Baumwollfelder nach Göbekli Tepe. Das ist eine der ältesten gefundenen Kulturstätten der Menschheit. Vor rund 11 600 Jahren erbaut, legen die Kalksteinpfeiler und die gesamte Anlagen den Schluss nahe, dass Jäger und Sammler der damaligen Zeit erst einen Tempel oder Kultort erbaut habe und die Menschen erst nachher sesshaft wurden.
Äusserst eindrücklich war das Treffen mit der Frauenorganisation KA-MER. Gül und ihre Kolleginnen besuchen Frauen in den Dörfern und wecken ihr Bewusstsein für ihre persönlichen und wirtschaftlichen Rechte. Sie stärken das Selbstbewusstsein, fördern unternehmerische Ideen und sorgen für Kinderbetreuung. Bei Gewalt an Frauen – Gül: «Wo Männer sind, herrscht immer Gewalt» – beraten sie in rechtlichen Dingen und zeigen auf, was der Staat leistet. Das kann soweit gehen, dass sie einer Frau, die das will, eine neue Identität geben, damit sie ohne Furcht vor Familienrache ein neues Leben beginnen kann.

Über Anatolien nach Istanbul
Aus dem Flugzeug konnte die gesamte Reise noch einmal von oben verfolgt werden, die weiten Landschaften, die Berge, Flüsse und Städte.
Und dann eine der schönsten und faszinierendsten Städte Istanbul.

Istanbul

Der quirlige ägyptische Basar, eine stürmische Fahrt auf dem Bosporus, eine Tramfahrt durch das Menschengewühl und ein hervorragende Abschiedsessen im anatolischen Restaurant beim Galata-Turm. Zum Abschied ein Besuch der Pilgermoschee von Eyüp und ein letzter türkischer Kaffee, süsser Tee oder Kirschensaft hoch über der Stadt im Café Pierre Loti).

Fazit
Eine wunderbare Reise in ein Land mit gut ausgebauter Infrastruktur – Wireless Lan in jedem Hotel, ausgezeichnetes Essen und ein sicheres Gefühl in den Strassen. Beeindruckend: die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Türkinnen und Türken.

Reisebericht für metapuls
© Text Guy A. Lang