Märchenstunde in der S-Bahn

guylang —  8. April 2012 — Kommentiere

Morgens, etwa 7.30 Uhr, S9 vom Säuliamt Richtung Zürich HB. Hektisches Treiben an den Smartphones, Blackberrys und Handys. Und die Kreuzworträtsel in den Gratiszeitungen füllen sich. Rascheln, flüstern, gähnen, die Stimmung ist gespannt müde – kurz ein ganz gewöhnlicher Arbeitstag beginnt.Valle Heureuse «Da chunnt s chli Meiteli vor e Türe, chlopfet und wartet. Denn chunt en alte Ma mit eme wisse Bart use und sait: ‹Du häsch jetzt drüü Wünsch offe…›». Nach und nach verstummen die Telefongespräche, die Leute suchen verstohlen die Richtung, aus der diese Worte kommen. Und sie beginnen gebannt zuzuhören. Eine ungewohnte, ruhevolle Atmosphäre verbreitet sich in der Bahn.
Die Stimme ist bald geortet: eine junge Mutter liest ihrer kleinen Tochter aus einem Märchenbuch vor. Wahrscheinlich ist sie auf dem Weg zur Krippe, ehe sie selber zur Arbeit geht. Und dann hängt plötzlich nicht nur das gelockte Wesen mit den bunten Haarklammern am Mund der Mutter, auch die Aufmerksamkeit der eben noch gelangweit müden Morgenmuffel wendet sich dem Paar zu.

Besser als alle geschriebenen Artikel, besuchten Seminare und gelehrten Abhandlungen zeigt die Märchenstunde in der S-Bahn die veränderten Arbeits- und Familienstrukturen in unserer heutigen Berufswelt. Frauen sind gleichzeitig auf dem Weg zur Krippe und zur Arbeit. Und bringen Business und Familie pragmatisch unter einen Hut.
Noch ein seltenes Kunstwerk gelingt der Frau: Sie lässt die Welt für einen Moment stehen und bringt vier Abteile voller berufstätiger Menschen dazu, den Alltag zu vergessen und in eigene Erinnerungen abzutauchen. Erinnerungen an die eigenen Mütter und ihre Geschichten, an glückliche Stunden im Kindergarten und an die Märchen, die wieder aus dem Nebel des Vergessenseins auftauchen. Und die nur höchst ungern aussteigen weil die Erzählung noch nicht zu Ende ist.
Übrigens, es handelt sich bei der beschriebenen Szene keineswegs um einen Einzelfall: sie wiederholt sich viermal in der Woche. Und es ist spannend zu beobachten, wie sich eine kleine Fangemeinde im Wagen bildet, die das Repertoire der gesammelten Märchenliteratur wieder entdeckt.

Erschienen in HR Today

Keine Kommentare

Sag doch mal was.

Schreibe einen Kommentar

Textformatierung ist verfügbar über HTML. <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>

*