Behinderte \u2013 H\u00f6chstleistungen<\/a><\/p>\n\u00abBesucher haben etwas anderes im Kopf, wenn sie bei uns eine Besichtigung machen\u00bb, sagt Marcel Fluri, Gesch\u00e4ftsf\u00fchrer bei Espas, einer Stiftung f\u00fcr die wirtschaftliche und soziale Integration nicht voll leistungsf\u00e4higer Menschen, beim Gang durch die grossz\u00fcgigen, hellen Grossraumb\u00fcros. Auch Fredy Sch\u00e4r vom Behindertenwerk St. Jakob in Z\u00fcrich betont, dass es f\u00fcr die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den verschiedenen Werkst\u00e4tten ausserordentlich wichtig sei, dass die Arbeitspl\u00e4tze sauber sind. Sch\u00e4r: \u00abUnser Clean-Team ist stolz darauf, dass immer alles auf Hochglanz gebracht wird und dass es dadurch den andern Teams die Arbeit erleichtern kann.\u00bb
\nReinigung geh\u00f6rt zum T\u00e4tigkeitsbereich \u00abSt.Jakob Dienste\u00bb, des Weiteren gibt es die Confiserie, den \u00abBeck\u00bb, die Schreinerei, den Weinbau oder die Creation. \u00abWir m\u00fcssen gewinnbringend wirtschaften und bieten Leistungen an, die nicht aus Mitleid bezogen werden, sondern solche, die den Menschen Freude machen\u00bb, argumentiert Fredy Sch\u00e4r. Er will weg vom \u00abSozialgejammer\u00bb, gefragt ist professionelle Arbeit. \u00abUnsere Leute erbringen hohe Leistungen, nicht in Bezug auf Quantit\u00e4t, sondern in Bezug auf Qualit\u00e4t. Denn sie wollen als Erwachsene ernst genommen werden.\u00bb<\/p>\n
Seit sich die Wirtschaft immer schlankere Strukturen verpasst,<\/strong> um auf dem h\u00e4rter umk\u00e4mpften Markt zu bestehen, haben schwache Menschen \u2013 seien sie psychisch oder physisch behindert \u2013 immer weniger Chancen. Fanden sie fr\u00fcher in einem Betrieb zum Beispiel als Postboten noch ein Einkommen, k\u00fcmmern sich heute verschiedene Institutionen darum, dass sie Arbeit und somit eine Tagesstruktur erhalten. Dass sie dort nicht nur irgendwie besch\u00e4ftigt werden, sondern in ihrem jeweiligen Rahmen produktiv arbeiten, ist heute eine Selbstverst\u00e4ndlichkeit. Denn auch ihre Arbeitgeber k\u00f6nnen nicht einfach Almosen verteilen, auch sie sind den Zw\u00e4ngen des Marktes unterworfen. Sie m\u00fcssen Auftr\u00e4ge akquirieren, sie exakt erledigen und fristgem\u00e4ss liefern. Sch\u00e4r: \u00abEs ist schwierig, neue Kunden zu gewinnen. Und wenn sie nicht zufrieden sind, sind sie schnell wieder weg.\u00bb Das bedeutet, dass Mitarbeitende motiviert werden m\u00fcssen, genau zu arbeiten, was nicht immer einfach ist.<\/p>\nIn der Zusammenarbeit mit Behinderten<\/strong> ist es unabdingbar, viel Geduld mitzubringen. Denn Menschen, die nicht ganz so funktionieren, wie andere wollen, k\u00f6nnen weder erzogen noch gezwungen werden. Bietet sich ihnen jedoch ein gutes Betriebsklima und wird ihr Selbstvertrauen gef\u00f6rdert, werden gute Resultate erreicht. \u00abArbeit und eine sinnvolle Besch\u00e4ftigung sind wichtige Faktoren f\u00fcr das Selbstbewusstsein insbesondere f\u00fcr Leute mit einer Behinderung\u00bb, best\u00e4tigt Roland Schl\u00e4fli, Leiter der Institution R\u00e4bhof in Lausen BL. \u00abWenn Auftr\u00e4ge erledigt werden k\u00f6nnen, zu denen ein Bezug besteht, ist es besonders \u2039erbauend\u203a, sagen zu k\u00f6nnen: \u2039Diese Produkte haben wir gemacht!\u203a.\u00bb<\/p>\nWichtig ist auch,<\/strong> dass man einen normalen Umgang mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern pflegt. Also werden mit allen Arbeitsvertr\u00e4ge abgeschlossen. Von den Institutionen werden sie unbedingt eingehalten, die Mitarbeitenden sind dazu nicht immer in der Lage. Sie kommen manchmal zu sp\u00e4t oder gar nicht. \u00abWir haben normale K\u00fcndigungsfristen\u00bb, stellt Marcel Fluri fest. Allerdings werden sie nicht ganz so rigoros eingesetzt wie im Markt. Weil bei Espas 80 Prozent der Personen psychisch behindert sind \u2013 mit schleichenden Depressionen, Alkoholproblemen usw. \u2013 wird mit den Betroffenen bei Unregelm\u00e4ssigkeiten ein Gespr\u00e4ch gef\u00fchrt, in dem die Wahrnehmungen mitgeteilt werden. Schuldzuweisungen oder Zw\u00e4nge gibt es nicht. Auch wird ihnen angedeutet, dass sie wieder- kommen k\u00f6nnen, wenn sie wollen. Die Toleranz- grenze, bis eine endg\u00fcltige K\u00fcndigung ausgesprochen wird, liegt bei etwa drei Monaten.
\nDas Wiederauftauchen in einem Team stellt kein Problem dar, schliesslich wissen alle aus eigener Erfahrung um ihre Schw\u00e4chen. Wesentlich f\u00fcr alle Menschen ist, dass sie in einem sozialen Rahmen leben und arbeiten k\u00f6nnen, dass sie einen Austausch zu anderen Personen haben. Die Gefahr der Vereinsamung ist bei behinderten Menschen gross, besonders bei psychisch Kranken. Tagesstrukturen und die Zusammenarbeit im Team sind daher wichtig.<\/p>\nDer Umgang mit Anwesenheitsproblemen<\/strong> verl\u00e4uft bei St. Jakob in etwa gleich. Wenn das Zusp\u00e4tkommen oder das \u00abHalt-einfach-Fehlen\u00bb \u00fcbertrieben wird, setzt sich der Abteilungsleiter mit allen Betroffenen zusammen und sucht eine L\u00f6sung. Denn der Zeitdruck f\u00fcr angenommene Aufgaben ist enorm. Zwar sind die jeweiligen Teamgr\u00f6ssen darauf ausgerichtet, Abwesenheiten auffangen zu k\u00f6nnen. Falls die Zeit trotzdem knapp wird, kann die Arbeit von Personen aus anderen Abteilungen abgedeckt werden, dies auf freiwilliger Basis. Und wenn gar nichts mehr geht, muss das Leitungsteam einspringen und den Auftrag zu Ende bringen. \u00abWichtig ist, dass die Abteilungsleiter die St\u00e4rken und Schw\u00e4chen ihrer Mitarbeitenden kennen und somit wissen, was zumutbar ist\u00bb, so Fluri. Entsprechend werden Auftr\u00e4ge angenommen und die Arbeit verteilt. Fredy Sch\u00e4r: \u00abUnser Erfolg beruht darauf, dass wir flexibel sind und Auftr\u00e4ge schnell umsetzen.\u00bb Denn eine Chance kommt nur einmal. Und so reagierte er sofort, als kurzfristig f\u00fcr den Besuch des Dalai Lama im Z\u00fcrcher Hallenstadion 10 000 Kissen geordert wurden.
\nDie Mitarbeitenden sind oft sehr traurig, wenn sie keine Auftr\u00e4ge oder Arbeit haben. Beim R\u00e4bhof erlebte eine Auftraggeberin, dass die einzelnen Leute zu ihr kamen und ihr die Hand sch\u00fcttelten: \u00abDanke, dass du uns Arbeit bringst.\u00bb Auch Marcel Fluri berichtet, dass die Leute mit ihrem Auftraggeber eine grosse Identifikation eingehen. \u00abSie sind dann das \u2039XY-Team\u203a und tragen Baseballm\u00fctzen mit dem entsprechenden Logo.\u00bb<\/p>\nDie meisten Mitarbeitenden in den Institutionen<\/strong> beziehen eine IV-Rente. F\u00fcr ihre Arbeit erhalten sie einen zus\u00e4tzlichen Lohn, der vertraglich festgelegt wird und ihren Leistungen angepasst ist. Bei St. Jakob erhalten sie eine Erg\u00e4nzung zwischen 0 und 50 Prozent eines normalen Arbeitnehmenden. Bewirbt sich jemand um einen Platz, wird dieser Person zun\u00e4chst der ganze Betrieb gezeigt und sie kann den Wunsch \u00e4ussern, wo sie arbeiten m\u00f6chte. Selbstverst\u00e4ndlich gibt es gewisse Voraussetzungen: In der Schreinerei m\u00fcssen Sicherheitsvorschriften ein- gehalten werden, in der B\u00e4ckerei sind Hygiene und Zuverl\u00e4ssigkeit unabdingbar. Dann erh\u00e4lt die \u00abeingestellte\u00bb Person zun\u00e4chst einen fest- gelegten Betrag, nach etwa zwei Wochen wird der endg\u00fcltige Lohn festgelegt.<\/p>\nDie Einstellung bei Espas <\/strong>verl\u00e4uft \u00e4hnlich. Zun\u00e4chst wird 14 Tage geschnuppert, dann ein auf drei Monate befristeter Vertrag ausgearbeitet, der dann in einen unbefristeten umgewandelt werden kann. Bei den Vertr\u00e4gen gilt das Normalit\u00e4tsprinzip \u2013 normale K\u00fcndigungsfristen und Arbeitgeberleistungen. Einmal im Jahr werden Mitarbeitergespr\u00e4che gef\u00fchrt \u2013 sie laufen im \u00fcblichen Rahmen ab \u2013, F\u00f6rderungen und Qualifikationen finden statt. Besteht eine Vakanz, kann sich jeder f\u00fcr diese Stelle innerhalb von Espas bewerben, ist er qualifiziert, wechselt er den Job. Aus- und Weiterbildungen werden an- geboten, denn das Ziel von Espas ist, Leute durch Jobtrainings, kaufm\u00e4nnische und IT- Lehren wieder in den normalen Arbeitsprozess zu integrieren. Der R\u00e4bhof bietet zwar keine eigene Weiterbildung f\u00fcr Mitarbeitende mit einer Behinderung, die meisten besuchen jedoch ausw\u00e4rtige Kurse. Zudem erhalten sie bei Aus- tritt ein Arbeitszeugnis.<\/p>\nEin besonders eindr\u00fcckliches Beispiel f\u00fcr die M\u00f6glichkeiten,<\/strong> die sich innerhalb einer solchen Institution f\u00fcr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bieten, weiss Fredy Sch\u00e4r. Eines Tages kam eine junge Frau zu St. Jakob, die sich in einem sehr schlechten Zustand befand. Sie wurde in die Ausr\u00fcstabteilung eingeteilt. Dort wird eingepackt und konfektioniert. So gewann sie etwas Boden unter den F\u00fcssen und \u00e4usserte eines Tages den Wunsch, im Verkauf der B\u00e4ckerei zu arbeiten. Zwar bestanden grosse Bedenken, man schenkte ihr jedoch das Vertrauen. Sie bl\u00fchte auf und war entschlossen, eine Verkaufslehre zu absolvieren. Auch dabei erhielt sie, wenn auch z\u00f6gerlich, Unterst\u00fctzung. Schliesslich, am 8. Juli 2004, erhielt die behinderte Frau das eidgen\u00f6ssische Abschlussdiplom als B\u00e4ckerei- und Konditoreiverk\u00e4uferin mit der Bestnote 5,9 ihres Pr\u00fcfungsjahrgangs im Kanton Z\u00fcrich.
\nSolche Beispiele sind die beste Reklame f\u00fcr ein Unternehmen. Sowohl bei Espas wie beim Behindertenwerk St. Jakob ist der Elan des Leitungsteams unerl\u00e4sslich, um eine erfolgreichen Betrieb zu garantieren. Marcel Fluri und Fredy Sch\u00e4r sind unerm\u00fcdlich darin, neue Ideen zu entwickeln, weitere Arbeitsm\u00f6glichkeiten zu generieren und mit ihren \u00abFirmen\u00bb zu wachsen. Beide liefern mit ihren Teams Qualit\u00e4t zu Marktpreisen, beide strotzen vor Visionen.<\/p>\nBesonders stolz ist Fredy Sch\u00e4r<\/strong> auf seinen Chor des Behindertenwerks St. Jakob, den er 1992 gr\u00fcndete. Urspr\u00fcnglich war eine Mitgliedschaft f\u00fcr alle obligatorisch, heute nur noch f\u00fcr das leitende Personal. Die Besch\u00e4ftigung mit Musik f\u00f6rdert die Sozialkompetenz und verst\u00e4rkt das Selbstwertgef\u00fchl. \u00abDie Leute strahlen, wenn sie nach einem Konzert Standing Ovations erhalten, sie, die sonst immer etwas bel\u00e4chelt werden\u00bb, sagt Sch\u00e4r. Nach anf\u00e4nglich kleinen Konzerten in Altersheimen wurde der Chor von der \u00d6ffentlichkeit in immer gr\u00f6sserem Rahmen wahrgenommen und akzeptiert. So musste das Weihnachtskonzert im Grossm\u00fcnster von Z\u00fcrich wiederholt werden. Und am 14. Oktober 2006 wird Mozarts \u00abRequiem\u00bb aufgef\u00fchrt \u2013 im KKL Luzern.<\/p>\nFazit:<\/strong> Beim Verfassen dieses Artikels ertappte ich mich dabei, dass ich behinderte Menschen als \u00abbedauernswerte Gesch\u00f6pfe\u00bb im Kopf hatte. Ich musste mir immer wieder bewusst machen, dass Menschen mit einer Krankheit einfach wollen, dass sie ernst genommen werden und dass ihr Arbeitsleben normal verl\u00e4uft. Jeder Arbeitgeber und jeder Unternehmer hat schliesslich gewisse Probleme mit den Mitarbeitenden, seien es P\u00fcnktlichkeit, Motivation, Terminkollisionen oder andere \u2013 wenn auch nicht im geschilderten Rahmen.<\/p>\nAuszug aus HR Today 10\/2006<\/a><\/p>","protected":false},"excerpt":{"rendered":"Arbeitspl\u00e4tze f\u00fcr behinderte Menschen \u2013 wer denkt da nicht an bedr\u00fcckende R\u00e4ume, in denen bedauernswerte Gesch\u00f6pfe einer mehr oder weniger sinnvollen T\u00e4tigkeit nachgehen? Weit gefehlt! Institutionen mit Behindertenprogrammen funktionieren wie \u00abnormale\u00bb Betriebe, die im Konkurrenzkampf bestehen m\u00fcssen. Behinderte \u2013 H\u00f6chstleistungen \u00abBesucher haben etwas anderes im Kopf,<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":0,"comment_status":"closed","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":{"footnotes":""},"categories":[11,1,5,27],"tags":[],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/www.guylang.ch\/index.php?rest_route=\/wp\/v2\/posts\/338"}],"collection":[{"href":"https:\/\/www.guylang.ch\/index.php?rest_route=\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/www.guylang.ch\/index.php?rest_route=\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.guylang.ch\/index.php?rest_route=\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.guylang.ch\/index.php?rest_route=%2Fwp%2Fv2%2Fcomments&post=338"}],"version-history":[{"count":14,"href":"https:\/\/www.guylang.ch\/index.php?rest_route=\/wp\/v2\/posts\/338\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":771,"href":"https:\/\/www.guylang.ch\/index.php?rest_route=\/wp\/v2\/posts\/338\/revisions\/771"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/www.guylang.ch\/index.php?rest_route=%2Fwp%2Fv2%2Fmedia&parent=338"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.guylang.ch\/index.php?rest_route=%2Fwp%2Fv2%2Fcategories&post=338"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.guylang.ch\/index.php?rest_route=%2Fwp%2Fv2%2Ftags&post=338"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}